Außenminister und Bundeskanzler in Bonn

In der Ende 1966 von CDU/CSU und SPD gebildeten Bundesregierung ist Willy Brandt Außenminister und Vizekanzler. Die Große Koalition leitet die Modernisierung der Bundesrepublik ein. Nach der Wahl 1969 wird Brandt der erste sozialdemokratische Bundeskanzler. Die von ihm geführte Regierung aus SPD und FDP setzt die inneren Reformen fort, treibt die Einigung Europas voran und beginnt eine neue Ost- und Deutschlandpolitik. 1971 erhält Brandt den Friedensnobelpreis. Von der Opposition heftig bekämpft, gewinnt er mit der SPD die vorgezogenen Neuwahlen 1972. Doch eine Wirtschaftskrise und eine Spionage-Affäre führen 1974 zum vorzeitigen Kanzlerrücktritt.

Alle Texte des multimedialen Zeitstrahls 1967-1974

Botschafteraustausch mit Rumänien

In Bonn vereinbaren die Außenminister Willy Brandt und Corneliu Mănescu am 31. Januar 1967 den Austausch von Botschaftern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Rumänien. Ein Novum, denn gemäß der „Hallstein-Doktrin“ unterhält die Bundesrepublik – außer zur Sowjetunion – bis dato keine diplomatischen Beziehungen mit Staaten, die die DDR anerkannt haben.

Die flexiblere Ostpolitik der Regierung Kiesinger/Brandt stößt jedoch auf Widerstand. Im April 1967 erklären die übrigen Warschauer-Pakt-Staaten, dass sie so lange keine Beziehungen mit der Bundesrepublik aufnehmen werden, bis diese die DDR und die Oder-Neiße-Grenze völkerrechtlich anerkannt habe. Gleichwohl wird Brandt im Juli 1967 Rumänien besuchen und auch mit dem eigenwilligen Staats- und Parteichef Nicolae Ceaușescu zusammentreffen.

Gespräche in USA zu Nonproliferation

Vom 7. bis 11. Februar 1967 hält sich Außenminister Willy Brandt in den USA auf. Dort führt er Gespräche mit Präsident Johnson, Vizepräsident Humphrey, Außenminister Rusk und Verteidigungsminister McNamara. Wichtigstes Thema sind die amerikanisch-britisch-sowjetischen Verhandlungen über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (Nonproliferation).

Prinzipiell befürwortet die Bonner Regierung ein Abkommen. Brandt macht in Amerika aber deutlich, dass ein Nichtverbreitungsvertrag und damit verbundene Kontrollen nicht zu einer Diskriminierung und Behinderung der Bundesrepublik bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie führen dürften. Vor dem Auswärtigen Ausschuss des Bundestags berichtet er Anfang März 1967, dass die US-Regierung zugesagt hat, den Vertragstext mit Bonn und den anderen NATO-Partnern abzustimmen.

Europäische Konsultationen

Der April 1967 ist für Bundesaußenminister Willy Brandt ein „Europa-Monat“. Im Terminkalender stehen ein Treffen der WEU in Rom, eine EWG-Ministerratstagung in Brüssel, ein Besuch in London und die Begegnung mit dem französischen Außenminister Couve de Murville in Bonn. Brandt wirbt für die „Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaften“.

Die Große Koalition will die Fusion von Montanunion, EWG und EURATOM erreichen und die Aufnahme neuer Mitglieder in die Europäische Gemeinschaft ermöglichen. Doch nach wie vor lehnt Frankreich einen Beitritt Großbritanniens ab. Hierzu gibt es weder beim EWG-Gipfel Ende Mai 1967 in Rom noch bei den Gesprächen von Bundeskanzler Kiesinger und Außenminister Brandt mit Präsident de Gaulle im Januar 1967 in Paris und im Juli 1967 in Bonn Fortschritte.

Hilfe für einen griechischen Freund

Durch einen Putsch gegen die demokratische Regierung übernimmt das Militär am 21. April 1967 die Macht in Griechenland. Tausende Demokraten werden daraufhin festgenommen und interniert. Auf der Verhaftungsliste steht auch Basil Mathiopoulos, ein in Deutschland lebender und mit Willy Brandt befreundeter griechischer Journalist.

Mathiopoulos, der sich gerade für Filmaufnahmen in Athen aufhält, kann sich in die Deutsche Botschaft retten. In Bonn ordnet Außenminister Brandt sofort an, dass der Asylsuchende solange in der Botschaft bleiben kann, bis seine Rückreise in die Bundesrepublik gesichert ist. Nach dreiwöchigen Verhandlungen zwischen den Regierungen darf Mathiopoulos das Land unbehelligt verlassen. Im November 1967 entzieht ihm die Militärjunta jedoch die griechische Staatsbürgerschaft.

Japan-Besuch und Botschafterkonferenz

Am 8. Mai 1967 bricht Willy Brandt zu einer Reise nach Japan auf. Während seines elftägigen Besuchs wird der deutsche Außenminister u. a. von Kaiser Hirohito und Ministerpräsident Eisaku Sato empfangen. In Gesprächen mit seinem Amtskollegen Takeo Miki erörtert Brandt insbesondere die Auswirkungen des geplanten Vertrags über die Nichtverbreitung von Atomwaffen. Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland und Japans sind sich einig, dass der Vertrag die friedliche Nutzung der Kernenergie nicht behindern dürfe.

Im Anschluss an die deutsch-japanischen Konsultationen nimmt Brandt vom 16. bis 19. Mai 1967 in Tokio an einer Konferenz der bundesdeutschen Botschafter teil, die dem süd- und ostasiatischen Raum und den Handlungsmöglichkeiten der Bonner Außenpolitik gewidmet ist.

Tödliche Schüsse bei Anti-Schah-Protesten

Während seines Deutschlandbesuchs kommt der Schah von Persien am 2. Juni 1967 nach West-Berlin. Gegen den iranischen Diktator gehen Tausende Menschen auf die Straße. Die Polizei setzt Gummiknüppel und Wasserwerfer gegen die Demonstranten ein und am Abend wird der Student Benno Ohnesorg erschossen. Der Täter ist Polizist und – was erst 2009 bekannt wird – ein Informeller Mitarbeiter (IM) der DDR-Staatssicherheit (Stasi).

1967 löst die Polizeigewalt bundesweit Empörung aus. Die studentische Protestbewegung, deren Kritik auch Willy Brandt gilt, weitet sich aus. Ende Juni 1967 stellt sich der SPD-Vorsitzende an der Bonner Universität der Diskussion mit Studenten. Brandt will, dass seine Partei das Gespräch mit den jungen Leuten sucht. Der Dialog müsse aber „auf dem Boden der demokratischen Ordnung“ stattfinden, betont er.

Reformen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik

Mit hohem Tempo beschließt die Große Koalition von CDU/CSU und SPD bis zur Sommerpause 1967 wichtige Reformen. Am 6. Juli 1967 einigt sich das Kabinett auf die „Mittelfristige Finanzplanung“ und ein zweites Konjunkturprogramm. Mitte Mai 1967 hat der Bundestag bereits das „Stabilitäts- und Wachstumsgesetz“ verabschiedet, das auf stetiges Wirtschaftswachstum, stabile Preise, Vollbeschäftigung und gleichgewichtigen Außenhandel abzielt.

Zur „Globalsteuerung der Wirtschaft“ soll auch die im Februar 1967 von Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) einberufene „Konzertierte Aktion“ mit Vertretern von Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern beitragen. Vor der Parteiführung und vor der Fraktion wirbt Willy Brandt für diese Beschlüsse, mit denen zentrale Forderungen der SPD verwirklicht werden.

Start des deutschen Farbfernsehens

Am 25. August 1967 um 10:57 Uhr drückt Außenminister und Vizekanzler Willy Brandt auf der 25. Internationalen Funkausstellung in Berlin den roten Startknopf für das Farbfernsehen in Deutschland. Tatsächlich wird das Bild schon einen Moment zuvor bunt, weil ein Techniker zu früh umgeschaltet hat.

Nach den USA und Japan ist die Bundesrepublik das erste europäische Land, das Fernsehen nach dem PAL-Standard einführt. Über 80 Mio. DM wurden von ARD, ZDF und Deutscher Bundespost in diese technische Weiterentwicklung investiert. Nur etwa 5% der Bundesbürger können anfangs davon profitieren, kostet doch ein Farbfernsehgerät in der Regel weit mehr als 2.000 DM. Die DDR führt das Farbfernsehen am 3. Oktober 1969 ein. Ausgestrahlt wird es dort aber im französischen SECAM-System.

Keine Verhandlungen mit der DDR

In Erklärungen zur Europa- und Außenpolitik gehen Außenminister Willy Brandt und Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger am 13. Oktober 1967 im Bundestag auch auf ihre Bemühungen um Entspannung mit der DDR und Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland ein.

Zwar hat Kiesinger auf Drängen der SPD im Mai erstmals ein Schreiben von DDR-Ministerpräsident Willi Stoph entgegengenommen und beantwortet. Aber zu direkten Regierungsverhandlungen, wie Ost-Berlin sie fordert, ist der Kanzler nicht bereit. Er will die DDR nicht als Staat anerkennen und nennt sie ein „Phänomen“. Hier zeichnet sich ein Graben in der Großen Koalition ab. Zum Ärger Kiesingers hat Brandt im August 1967 erklärt, es sei von der Realität auszugehen, dass es zwei politische Ordnungen auf deutschem Boden gebe.

Französisches Veto gegen britischen EWG-Beitritt

Wie bereits vier Jahre zuvor kündigt der französische Staatspräsident Charles de Gaulle bei einer Pressekonferenz am 27. November 1967 sein Veto gegen den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) an. Für die Bundesregierung in Bonn, vor allem für Außenminister Willy Brandt, ist dies eine herbe Enttäuschung.

In einem Interview hat der deutsche Vizekanzler noch einen Monat zuvor die Hoffnung geäußert, bis Jahresende in Beitrittsverhandlungen einzutreten. Zur neuen Lage erklärt Brandt in einer Sitzung des Bundeskabinetts am 29. November 1967, vorerst sei nicht an eine Vollmitgliedschaft Großbritanniens zu denken. Dieses Ziel müsse man aber wachhalten, „bis de Gaulle einsehe, dass seine derzeitige französische Europakonzeption nicht durchzuhalten sei“.

Harmel-Bericht der NATO

Bei einer Tagung in Brüssel beschließt der Ministerrat der NATO am 13./14. Dezember 1967 eine Neuausrichtung des nordatlantischen Bündnisses. Die Konferenz verabschiedet den „Bericht des Rats über die künftigen Aufgaben der Allianz“, der auf eine Initiative des belgischen Außenministers Pierre Harmel zurückgeht.

Der „Harmel-Bericht“ erklärt, dass militärische Verteidigung und politische Entspannung keine Gegensätze seien. Sie stellten vielmehr sich ergänzende Säulen für Frieden und Sicherheit dar. Die NATO-Staaten werden daher dazu aufgerufen, ihre Beziehungen zur Sowjetunion zu verbessern. Das Dokument entspricht voll und ganz den außenpolitischen Vorstellungen Willy Brandts, der den „Harmel-Bericht“ sehr begrüßt. In den Formulierungen des Papiers ist auch seine Handschrift klar erkennbar.

Wiederaufnahme der Beziehungen mit Jugoslawien

Elf Jahre nach dem von der Regierung Adenauer vollzogenen Abbruch verkünden die Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien am 31. Januar 1968 die Wiederaufnahme ihrer diplomatischen Beziehungen. Das ist das Ergebnis von Verhandlungen in Paris, zu denen das Bundeskabinett Außenminister Willy Brandt am 13. Dezember 1967 ermächtigt hat. Einzige Bedingung: Jugoslawische Wiedergutmachungsforderungen wegen der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg werden nicht anerkannt.

Wie schon 1967 mit Rumänien nimmt die Bundesrepublik mit dem blockfreien Jugoslawien Beziehungen auf, obwohl es die DDR anerkannt hat. Das widerspricht der „Hallstein-Doktrin“. Doch Brandt und auch Kanzler Kiesinger drängen in der Großen Koalition darauf, Jugoslawien nicht aus ihrer Entspannungspolitik auszuklammern.

SPD-Bundesparteitag in Nürnberg

Mit 97,6% bestätigt der Nürnberger Parteitag Willy Brandt als SPD-Vorsitzenden. Herbert Wehner und Helmut Schmidt werden zu Stellvertretern gewählt. Nachträglich, aber nur mit knapper Mehrheit billigen die Delegierten die Bildung der Großen Koalition. Die geplanten Notstandsgesetze, gegen die vor der Halle heftig demonstriert wird, sind auch unter SPD-Mitgliedern umstritten.

In seiner Rede am 18. März 1968 setzt Brandt ein wichtiges Zeichen in der Ostpolitik. Er betont die Notwendigkeit einer Versöhnung mit Polen und spricht sich erstmals offen für eine „Anerkennung bzw. Respektierung der Oder-Neiße-Linie“ aus. Die Vertriebenen-Verbände, zu denen die SPD bis dato gute Kontakte hat, und Teile der CDU/CSU protestieren scharf. Bundeskanzler Kiesinger distanziert sich vom Wort „Anerkennung“.

Attentat auf APO-Anführer

Im Frühjahr 1968 erreicht die Außerparlamentarische Opposition (APO) in der Bundesrepublik ihren Höhepunkt. Die Studentenbewegung fordert Hochschulreformen und protestiert gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition sowie gegen den Vietnamkrieg der USA. Als am 11. April 1968 in West-Berlin ein Anschlag auf den APO-Anführer Rudi Dutschke verübt wird, kommt es an Ostern vielerorts zu schweren Straßenunruhen.

In einem Interview mit der Zeitschrift „Quick“ nimmt Willy Brandt am 26. April 1968 zu den gewaltsamen Protesten Stellung. Darin äußert er sich auch zum politischen Engagement seines Sohnes, das in den Medien hohe Wellen schlägt. Peter Brandt ist am Ostersamstag bei einer APO-Demonstration vorübergehend festgenommen worden. „Quick“ veröffentlicht das Interview, stark gekürzt, erst am 8. Mai 1968.

Verabschiedung der Notstandsgesetze

Trotz starker Proteste der APO verabschiedet der Bundestag in Bonn am 30. Mai 1968 die Notstandsgesetze. Sie sollen die Handlungsfähigkeit von Regierung und Parlament in der Bundesrepublik Deutschland im Fall eines Krieges, einer Katastrophe oder eines Aufstands sicherstellen und schließen eine Lücke im Grundgesetz.

In seiner Rede vor dem Plenum verteidigt Außenminister und Vizekanzler Willy Brandt nachdrücklich die von der Großen Koalition eingebrachten Ergänzungen der Verfassung. Einen Teil der Kritik an den Notstandsgesetzen hält er für reine Demagogie. Im Namen der SPD verspricht Brandt: „Wer einmal mit dem Notstand spielen sollte, um die Freiheit einzuschränken, wird meine Freunde und mich auf den Barrikaden zur Verteidigung der Demokratie finden, und dies ist ganz wörtlich gemeint.“

NATO-Signal von Reykjavik

In der isländischen Hauptstadt nimmt Willy Brandt am 24./25. Juni 1968 an der Tagung des NATO-Ministerrats teil. Im Sinne des Harmel-Berichts von Dezember 1967 setzt das Bündnis dabei ein wichtiges entspannungspolitisches Signal. Die NATO bietet den Warschauer-Pakt-Staaten Verhandlungen über einen beiderseitigen und ausgewogenen Truppenabbau in Europa an.

Ein weiteres Thema sind die Behinderungen im Berlin-Verkehr. Mitte Juni 1968 hat die DDR die Visapflicht für Westdeutsche eingeführt, die auf dem Landweg nach Berlin reisen wollen. Außenminister Brandt erreicht in Reykjavik, dass die NATO-Partner die Sowjetunion an ihre Verantwortung für den freien Zugang nach Berlin gemahnen. Die Stadt und ihre Bewohner dürften von der Entspannung nicht ausgeschlossen werden, betont der Ministerrat.

Streit um den Atom­waffensperrvertrag

Im Sommer 1968 bricht in der Großen Koalition ein heftiger Streit über das Verhalten der Bundesrepublik zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen aus. Die USA, Großbritannien und die Sowjetunion haben ihn ausgehandelt und am 1. Juli 1968 unterschrieben. Zu den 59 Staaten, die dem Abkommen sofort beitreten, zählt auch die DDR.

In einem Schreiben vom 15. Juli 1968 appelliert Außenminister Willy Brandt an Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, den Vertrag rasch zu unterzeichnen. Die Glaubwürdigkeit der eigenen Entspannungspolitik stehe sonst auf dem Spiel. Mit der Unterschrift Bonns würde Ost-Berlin und Moskau auch ein Propagandainstrument genommen, so Brandt. Doch bei CDU und CSU überwiegt die Ablehnung, so dass sich die Große Koalition nicht auf einen Beitritt verständigen kann.

Niederschlagung des „Prager Frühlings“

Der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968 in der Tschechoslowakei bereitet den Reformen der dortigen kommunistischen Führung ein gewaltsames Ende. Die Sowjetunion will ein Ausscheren des Landes aus dem sozialistischen Lager verhindern und ihre Vorherrschaft in Osteuropa sichern.

Willy Brandt verurteilt die Militärintervention. Er hat den „Prager Frühling“ und die damit verbundene Idee eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ mit großer Sympathie verfolgt und sich um eine Annäherung an Prag bemüht. Den sowjetischen Vorwurf, die Bonner Regierung habe einen Umsturz in der Tschechoslowakei vorbereitet, weist der Bundesaußenminister entschieden zurück. Trotz der neuen schweren Belastung des Ost-West-Verhältnisses will Brandt an der Entspannungspolitik festhalten.

Genfer Konferenz der Nichtkernwaffenstaaten

Vom 29. August bis zum 28. September 1968 kommen erstmals die Staaten, die keine Atomwaffen besitzen, in Genf zu einer Konferenz zusammen. In seiner Rede vor den Delegierten im Völkerbundpalast bekräftigt Außenminister Willy Brandt den Verzicht der Bundesrepublik Deutschland auf die Herstellung und den Besitz von Nuklearwaffen. Die Bundesregierung strebe auch keinerlei Verfügungsgewalt über die in Westdeutschland lagernden atomaren Waffen an.

Mit Blick auf den von der Sowjetunion verfügten Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 betont Brandt, dass „die universalen Prinzipien des allgemeinen Völkerrechts“ nicht verletzt werden dürften: Souveränität, territoriale Integrität, Gewaltlosigkeit, Selbstbestimmungsrecht der Völker und Menschenrechte.

Treffen mit Gromyko und Südamerikareise

Am Rande der UN-Vollversammlung in New York trifft Willy Brandt am 8. Oktober 1968 erstmals mit dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko zusammen. Brandt will den Dialog über Gewaltverzicht zwischen Bonn und Moskau wiederbeleben, den die Sowjetunion im Juli 1968 nach 17 Monaten abgebrochen hat.

Doch es gibt keine Annäherung. Gromyko verlangt von der Bundesrepublik, die europäischen Grenzen und die DDR völkerrechtlich anzuerkennen, das Münchner Abkommen von 1938 für von Anfang an ungültig zu erklären und den Atomwaffensperrvertrag sofort zu unterzeichnen.

Von den USA aus reist Brandt nach Chile, wo er vom 14. bis 17. Oktober an einer Botschafterkonferenz teilnimmt. Nach Gesprächen mit der chilenischen Regierung stattet er auch Argentinien, Uruguay und Brasilien offizielle Besuche ab.

Kein Verbot der NPD

Die 1964 gegründete Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) hat bei der Bundestagswahl 1965 nur 2% der Stimmen bekommen. Doch seit in Bonn die Große Koalition regiert, erhält die rechtsextreme Partei immer mehr Zulauf. Die NPD zieht in sieben Landesparlamente ein und erzielt in Baden-Württemberg Ende April 1968 mit 9,8% ihr bestes Ergebnis.

Schon seit 1967 ist Willy Brandt der Meinung, dass die Bundesregierung beim Verfassungsgericht ein Verbot der Partei beantragen soll. Bei Bundeskanzler Kiesinger wirbt er im Juli 1968 auch für ein gemeinsames Auftreten von CDU/CSU und SPD gegen die NPD-Propaganda. Obwohl schließlich auch Innenminister Ernst Benda (CDU) die NPD für verfassungswidrig hält, vertagt das Bundeskabinett am 18. Dezember 1968 die Entscheidung über einen Verbotsantrag.

Genesungsaufenthalt auf Bühlerhöhe

Mitte Januar 1969 erkrankt Willy Brandt schwer. Wegen einer Rippenfellentzündung muss er mehrere Tage das Bett hüten und alle Termine absagen, darunter einen Besuch in London und eine zehntägige Asienreise.

Anschließend begibt er sich zur Kur ins Sanatorium Bühlerhöhe in den Schwarzwald, wo er sich bis 8. Februar erholt. Dort kann Brandt bald auch wieder etwas arbeiten: Briefe schreiben, telefonieren und politische Gespräche führen. Am 6. Februar empfängt er z. B. den sowjetischen Botschafter in Bonn, Semjon Zarapkin.

Am Ende des Monats steht für den Außenminister und Vizekanzler schon wieder ein USA-Aufenthalt auf dem Plan. Um sich zu schonen, nimmt Brandt für diese Reise über den Atlantik ein Schiff. Die Überfahrt von Neapel nach Halifax (Kanada) dauert vom 14. bis 23. Februar 1969.

Präsidenten-Wahl: Sieg für Heinemann

Begleitet von Störungen durch sowjetische Tiefflieger, verläuft die Wahl des Bundespräsidenten am 5. März 1969 in der West-Berliner Ostpreußenhalle äußerst spannend. Erst im dritten Wahlgang kann sich Justizminister Gustav Heinemann (SPD) mit 512 zu 506 Stimmen gegen Verteidigungsminister Gerhard Schröder (CDU) durchsetzen.

Während die NPD für Schröder stimmt, hat sich die FDP vor der Wahl entschieden, Heinemann zu unterstützen. Für die sieggewohnte CDU/CSU ist es eine empfindliche Niederlage. Heinemann spricht von einem „Stück Machtwechsel“.

Um die Chancen für ein Bündnis ihrer Parteien nach der im September stattfindenden Bundestagswahl auszuloten, kommen die Vorsitzenden von SPD und FDP, Willy Brandt und Walter Scheel, Anfang Mai 1969 in Düsseldorf zu einem geheimen Gespräch zusammen.

SPD-Wahlparteitag in Bad Godesberg

Auf ihrem außerordentlichen Bundesparteitag in Bad Godesberg beschließt die SPD am 17. April 1969 ihr Regierungsprogramm für die am 28. September stattfindende Bundestagswahl. Die Sozialdemokraten ziehen mit der Formel „Erfolg – Stabilität – Reformen“ in den Wahlkampf und wählen den Parteivorsitzenden und Außenminister Willy Brandt wieder zu ihrem Kanzlerkandidaten.

Zur Sicherung des Friedens strebt die SPD in der Außen- und Deutschlandpolitik nach der Freundschaft mit dem Westen auch die Verständigung der Bundesrepublik mit dem Osten an. In der Innenpolitik verspricht sie stabiles Wirtschaftswachstum und solide Finanzen, mehr soziale Sicherheit und Gerechtigkeit sowie Reformen des Staates und in der Bildung. Eine Koalitionsaussage enthält das SPD-Regierungsprogramm nicht.

Signale der Annäherung aus dem Osten

Im Frühjahr 1969 beginnt die Ostpolitik der Großen Koalition auf bessere Resonanz zu stoßen. In einer Rede bietet der Chef der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, Władysław Gomulka, am 17. Mai 1969 der Bundesrepublik Verhandlungen über einen Vertrag zur Anerkennung der polnischen Westgrenze an. Die Anerkennung der DDR ist dafür keine Vorbedingung mehr. In Bonn wird das Signal aufmerksam registriert. In einem Brief vom 4. Juni 1969 bittet Außenminister Willy Brandt den Krupp-Manager Berthold Beitz, bei seiner bevorstehenden Reise nach Polen das große Interesse der Bundesregierung am Dialog mit Warschau zu übermitteln.

Auch im deutsch-sowjetischen Verhältnis zeichnet sich Bewegung ab. Bereits im Januar 1969 hat Moskau ein neues Papier mit Vorschlägen für Gewaltverzichtserklärungen vorgelegt. Am 20. Mai 1969 fordert Brandt Bundeskanzler Kiesinger auf, eine Antwort nicht länger hinauszuzögern. Sie erfolgt am 3. Juli 1969. Nicht zuletzt wegen der Feuergefechte mit China am Grenzfluss Ussuri ist die Sowjetunion an einer Entspannung in Europa interessiert.

Dieses Motiv lässt sich auch im „Budapester Appell“ vom 17. März 1969 erkennen. Darin haben die Warschauer-Pakt-Staaten, ohne die sonst übliche Polemik gegen die Bundesrepublik, die Einberufung einer gesamteuropä­ischen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit vorgeschlagen. Außenminister Brandt will, wie er schon am 19. März 1969 im Bundestag erklärt hat, den „überraschenden Kurswechsel“ der sowjetischen Politik ausloten.

Koalitionskrise wegen Kambodscha

Die Anerkennung der DDR durch das nichtkommunistische Kambodscha am 8. Mai 1969 führt in der Großen Koalition zu heftigem Streit. Bundeskanzler Kiesinger und die CDU/CSU fordern den Abbruch der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und dem südostasiatischen Land, um zu verhindern, dass weitere Dritt-Welt-Staaten die DDR anerkennen. Außenminister Willy Brandt und die SPD wollen dagegen die letzten Reste der „Hallstein-Doktrin“ beseitigen.

Nach sehr harten Verhandlungen verkündet die Koalition am frühen Morgen des 4. Juni 1969 einen Kompromiss, den die FDP als „Kambodschieren“ verspottet: Die Beziehungen werden nicht abgebrochen, sondern „eingefroren“. Die bundesdeutsche Botschaft in Pnom Penh bleibt unbesetzt. Eine Woche später bricht Kambodscha von sich aus die Beziehungen mit Bonn ab.

Fortsetzung der Reformen im Innern

Trotz des beginnenden Wahlkampfs und der kaum noch zu überbrückenden Differenzen in der Ost- und Deutschlandpolitik bleibt die Große Koalition von CDU/CSU und SPD in der Innenpolitik handlungsfähig. Am 27. Juli 1969 beschließt der Bundestag ein Gesetz, das auch Arbeitern im Krankheitsfall bis zu sechs Wochen Lohnfortzahlung zubilligt.

Einen Monat zuvor sind durch Reformen des Strafrechts u. a. die Zuchthausstrafe sowie die Strafbarkeit von Ehebruch und Homosexualität abgeschafft worden. Weitere Gesetzesnovellen, die im Sommer 1969 verabschiedet werden, sind die Verbesserung der Rechtsstellung unverheirateter Mütter und nichtehelicher Kinder, die Einbeziehung aller Angestellten in die gesetzliche Krankenversicherung sowie die Stärkung der Kompetenzen des Bundes beim Ausbau der Hochschulen.

Sozialdemokratische Wählerinitiative

Seit 1965 engagiert sich Günter Grass für Willy Brandt und die SPD. Um ihn und die Partei im Bundestagswahlkampf 1969 noch besser zu unterstützen, hat der Schriftsteller gemeinsam mit anderen Künstlern, Journalisten und Intellektuellen eine Sozialdemokratische Wählerinitiative (SWI) gegründet. Das Projekt findet auf lokaler Ebene rasch Nachahmer.

Von Bonn aus ist Grass ab Mitte März bis Ende September 1969 mit einem Bus an rund 60 Tagen auf Wahlkampftour durch die Bundesrepublik unterwegs. Bis zum Wahltag legt er 32.000 km zurück, besucht 79 Wahlkreise, spricht bei 60 Veranstaltungen und gibt 46 Pressekonferenzen. Am 24. August 1969 trifft Grass bei einer Kundgebung in Hamburg auf Brandt, der einen guten Eindruck auf ihn macht: „entspannt, locker und auf überraschende Weise selbstsicher“.

Bundestagswahl: Mehrheit für SPD und FDP

Bei der Bundestagswahl am 28. September 1969 legt die SPD erneut zu und kommt auf 42,7% der Stimmen. Bei leichten Einbußen bleibt die CDU/CSU mit 46,1% aber stärkste Fraktion. Herbe Verluste erleidet die FDP, die nur noch 5,8% erhält. Die NPD scheitert mit 4,3% an der Fünfprozent-Hürde. Da die ersten Hochrechnungen eine absolute Mehrheit der Mandate für die CDU/CSU voraussagen, lässt sich Bundeskanzler Kiesinger bereits als Wahlsieger feiern.

Doch um 23:30 Uhr verkündet Willy Brandt vor den Kameras, dass SPD und FDP über eine knappe Mehrheit der Sitze verfügen und über eine Koalition verhandeln werden. Dafür hat er telefonisch die Zustimmung des FDP-Vorsitzenden Walter Scheel eingeholt. Herbert Wehner und Helmut Schmidt, die der Großen Koalition den Vorzug geben, hat Brandt nicht gefragt.

Kanzlerwahl und Vereidigung

Am 21. Oktober 1969 wählt der Bundestag in Bonn Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Er erhält 251 Stimmen, zwei mehr als notwendig. Aber auf Seiten der sozial-liberalen Koalition von SPD und FDP haben mindestens drei Abgeordnete nicht für Brandt votiert. Vor seiner Vereidigung im Bundestag bekommt der neue Kanzler von Bundespräsident Heinemann in der Villa Hammerschmidt die Ernennungsurkunde ausgehändigt.

So wird auch tags darauf bei den Bundesministern verfahren, von denen die SPD elf und die FDP vier stellt. Ein Kabinettsmitglied ist parteilos. Außenminister Walter Scheel wird Vizekanzler. Herzstück der Koalitionsvereinbarungen, für deren Abschluss beide Parteien nur wenige Tage benötigt haben, ist die Außen- und Deutschlandpolitik.

Regierungserklärung des Bundeskanzlers

Eine Woche nach seiner Wahl gibt Willy Brandt im Bundestag in Bonn seine erste Regierungserklärung als Bundeskanzler ab. Im Innern will die SPD-FDP-Koalition „mehr Demokratie wagen“, die Freiheitsrechte erweitern, die soziale Sicherung ausbauen, Bildungschancen verbessern, aber auch mehr Mitverantwortung einfordern.

Nach außen kündigt Brandt eine neue Ost- und Deutschlandpolitik an. Fest verankert im Westen, strebt die neue Regierung die Aussöhnung mit den Nachbarn im Osten an, vor allem mit der Sowjetunion, Polen und der Tschechoslowakei. Der DDR, deren staatliche Existenz er nicht mehr bestreitet, bietet der Kanzler Verhandlungen über die Aufnahme von Beziehungen an. Diese könnten aber nur besonderer Art sein, da die beiden deutschen Staaten füreinander nicht Ausland seien, so Brandt.

Aufbruch zur Entspannungspolitik

Die Regierung Brandt/Scheel schlägt rasch Pflöcke ein. Mitte November 1969 vereinbart sie mit der Sowjetunion Verhandlungen über einen Gewaltverzichtsvertrag. Sie starten im Dezember und werden ab 30. Januar 1970 von Egon Bahr und Andrej Gromyko in Moskau geführt. Zudem verabreden die Bundesrepublik und Polen, bald Gespräche über die Aufnahme von Beziehungen zu beginnen. Ein großes Hindernis für die neue Ostpolitik beseitigt Bonn mit der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags am 28. November 1969.

Auch international stehen die Zeichen auf Entspannung: Am 4. Dezember 1969 bietet die NATO dem Warschauer Pakt Verhandlungen über Truppenreduzierungen (MBFR) in Europa an. Zwölf Tage später erklären sich die USA, Großbritannien und Frankreich bereit, mit der Sowjetunion über Berlin zu reden.

Europäischer Gipfel in Den Haag

Bei ihrem Treffen in Den Haag am 1./2. Dezember 1969 erzielen die Staats- und Regierungschefs der sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) einen Durchbruch. 1970 sollen die Beitrittsverhandlungen mit Großbritannien sowie mit Dänemark, Irland und Norwegen beginnen. Bundeskanzler Willy Brandt hat großen Anteil daran, dass Frankreichs Staatspräsident Georges Pompidou einer britischen EWG-Mitgliedschaft zustimmt.

Im Grundsatz einigen sich die Gipfelteilnehmer auch auf die stufenweise Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion. Zudem regeln sie die künftige Finanzierung der Agrarpolitik. Die Beschlüsse geben dem europäischen Einigungsprozess neuen Schwung. Zu den Ergebnissen der Konferenz gibt Brandt am 3. Dezember 1969 im Bundestag eine Regierungserklärung ab.

Bericht zur Lage der Nation

In seinem ersten Bericht zur Lage der Nation betont Bundeskanzler Willy Brandt am 14. Januar 1970 im Bundestag die Zusammengehörigkeit des deutschen Volkes. Ziel bleibe die Selbstbestimmung der Deutschen in einer europäischen Friedensordnung. Das dürfe aber nicht daran hindern, nun zu einem geregelten Nebeneinander der beiden deutschen Staaten zu kommen. Brandt bietet der DDR erneut Verhandlungen über einen Gewaltverzicht und über Erleichterungen für die Menschen im geteilten Deutschland an.

Am 22. Januar 1970 schreibt er dazu einen Brief an DDR-Ministerpräsident Willi Stoph. Auf scharfe Ablehnung der CDU/CSU und speziell des Verlegers Axel Springer stößt, dass der Kanzler nicht mehr von „Wiedervereinigung“ sprechen will. In der „Welt am Sonntag“ vom 1. Februar 1970 antwortet Brandt seinen Kritikern.

Brandanschlag auf jüdisches Altenheim

Wenige Tage vor dem Besuch des israelischen Außenministers Abba Eban erschüttern antisemitische Anschläge die Bundesrepublik. Am 13. Februar 1970 sterben in München sieben jüdische Bewohner eines Altenheims der Israelitischen Kultusgemeinde, als ein Unbekannter Feuer legt. Führende Politiker, voran Bundespräsident Gustav Heinemann, verurteilen die Mordtat. Bundeskanzler Willy Brandt erklärt, es werde alles getan, die Täter zu finden.

Für den bis heute nicht aufgeklärten Brandanschlag ist möglicherweise eine linksextreme Gruppe verantwortlich. Unklar ist auch, ob es eine Verbindung zu palästinensischen Terrorakten gibt. Bei einer versuchten Entführung eines israelischen Flugzeugs am 10. Februar in München und Bombenanschlägen auf zwei Maschinen am 21. Februar 1970 kommen 48 Menschen ums Leben.

Erstes Treffen mit Stoph in Erfurt

Im Sonderzug reist Bundeskanzler Willy Brandt am 19. März 1970 nach Erfurt, um erstmals mit DDR-Ministerpräsident Willi Stoph zu verhandeln. Schon entlang der Bahnstrecke zeigt die Bevölkerung in der DDR Brandt ihre Sympathie. Bei seiner Ankunft sind Tausende am Bahnhofsplatz versammelt. Spontan durchbrechen die Menschen die Sperren vor dem Konferenzhotel „Erfurter Hof“ und rufen: „Willy Brandt ans Fenster.“

Mit beruhigender Geste zeigt sich der Kanzler der Menge, die ihm zujubelt. „Ich war bewegt und ahnte, dass es ein Volk mit mir war“, schreibt er dazu später. Die politischen Gespräche bringen keine Annäherung. Stoph verlangt die völkerrechtliche Anerkennung der DDR, was Brandt ausschließt. Einig ist man sich nur darüber, dass von deutschem Boden nie wieder ein Krieg ausgehen dürfe.

Gespräche mit Nixon in Washington

Bei einem kurzen USA-Besuch trifft Bundeskanzler Willy Brandt am 10. und 11. April 1970 zu zwei Vier-Augen-Gesprächen mit Präsident Richard Nixon zusammen. Thema sind vor allem die Ost-West-Beziehungen, insbesondere die neue Ost- und Deutschlandpolitik. Die ausführliche Unterrichtung des wichtigsten Bündnispartners und der Austausch mit ihm ist Brandt sehr wichtig.

Schon im Oktober 1969 haben die Berater Henry Kissinger und Egon Bahr einen „geheimen Kanal“ zwischen Weißem Haus und Kanzleramt installiert. Brandt will an der festen Westbindung der Bundesrepublik keinen Zweifel aufkommen lassen. Dies hat er auch bei seinen Treffen mit dem französischen Präsidenten Georges Pompidou am 30. Januar in Paris und dem britischen Premierminister Harold Wilson am 2. März 1970 in London unterstrichen.

Kanzlerbesuch in Oslo

Am 23. April 1970 trifft Bundeskanzler Willy Brandt zu einem dreitägigen Staatsbesuch in Oslo ein. Im Mittelpunkt seiner Gespräche mit der norwegischen Regierung steht der geplante Beitritt Norwegens zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG).

Als besondere Auszeichnung empfindet der Kanzler die Einladung, vor den Mitgliedern des norwegischen Parlaments („Storting“) zu sprechen. In seiner Rede am 24. April 1970 betont Brandt, wie viel er Norwegen verdankt, dem er sich eng verbunden fühlt. Er erinnert auch an die deutsche Besetzung des Landes 1940 und würdigt das Verständnis und die Hilfe, die viele Norweger nach dem Krieg trotzdem für die Bundesrepublik aufgebracht hätten. Brandt wirbt für die Einigung Europas und nennt als Ziel seiner Außenpolitik die Schaffung einer gesamteuropäischen Friedensordnung.

SPD-Bundesparteitag in Saarbrücken

Beim ersten SPD-Parteitag nach der Regierungsübernahme durch die sozial-liberale Koalition stellt Bundeskanzler Willy Brandt am 13. Mai 1970 in Saarbrücken klar, dass das Godesberger Programm die Grundlage für die Politik der Partei sei und bleibe. Damit erteilt er den Forderungen der Jungsozialisten (Jusos) nach systemverändernden Reformen eine Absage. Die SPD brauche aber, so Brandt, „ein gesellschaftliches Gesamtkonzept, ein quantifiziertes Langzeitprogramm“. Schon zu Beginn des Parteitags hat er erklärt, es gehe darum, „wie man allmählich mehr soziale Demokratie verwirklicht“.

Am 14. Mai wird Brandt mit 318 von 331 Stimmen als Parteivorsitzender wiedergewählt. SPD-Fraktionschef Herbert Wehner und Verteidigungsminister Helmut Schmidt werden als stellvertretende Vorsitzende bestätigt.

Zweites Treffen mit Stoph in Kassel

Gut zwei Monate nach dem Besuch von Bundeskanzler Willy Brandt in Erfurt kommt DDR-Ministerpräsident Willi Stoph am 21. Mai 1970 in die Bundesrepublik. Rechtsradikale Krawallmacher stören den Ablauf des Treffens in Kassel erheblich. Für die Regelung der deutsch-deutschen Beziehungen legt Brandt einen 20-Punkte-Katalog vor.

Doch weder die „Existenz zweier Staaten einer Nation“ noch das „Fortbestehen der Vier-Mächte-Verantwortung für Berlin“ sind für Stoph akzeptabel. Er beharrt auf der vollständigen völkerrechtlichen Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik. Die Gespräche enden, ohne dass eine gemeinsame Schlusserklärung abgegeben und ein weiteres Treffen vereinbart wird. Um die Fortsetzung des Dialogs nicht unmöglich zu machen, verständigt man sich darauf, eine „Denkpause“ einzulegen.

Senkung des Wahlalters auf 18 Jahre

Mit ihren ersten innenpolitischen Reformen geht die Regierung Brandt-Scheel bewusst auf die junge Generation und die „68er Bewegung“ zu. Mit Zustimmung der CDU/CSU wird am 18. Juni 1970 das aktive Wahlalter in der Bundesrepublik von 21 auf 18 sowie das passive Wahlalter von 25 auf 21 Jahre gesenkt.

Hoch umstritten ist dagegen die Liberalisierung des Demonstrationsstrafrechts, die SPD und FDP bereits am 20. Mai 1970 im Bundestag verabschiedet haben. Sie beinhaltet auch eine Amnestie für früher begangene Vergehen wie „Auflauf“ und „Landfriedensbruch“, die nun als Tatbestände abgeschafft bzw. neuformuliert worden sind. Auf sozialpolitischem Gebiet beschließt die sozial-liberale Koalition 1970 eine verbesserte Förderung der Vermögensbildung von Arbeitnehmern und eine Erhöhung des Kindergeldes.

Gipfeltreffen mit Pompidou in Bonn

Zu Gesprächen mit Bundeskanzler Willy Brandt hält sich Frankreichs Staatspräsident Georges Pompidou am 3./4. Juli 1970 in Bonn auf. Themen der deutsch-französischen Regierungskonsultationen sind u. a. die Ost-West-Beziehungen, speziell die Verhandlungen der Bundesrepublik mit der Sowjetunion, der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft (EG), Währungsfragen und die außenpolitische Zusammenarbeit der EG-Staaten (EPZ).

Um Forderungen der CDU/CSU entgegenzukommen, wünscht Brandt sich eine stärkere Einbeziehung des Europäischen Parlaments bei der EPZ. Zwar stimmt Pompidou regelmäßigen Beratungstreffen der EG-Außenminister zu. Doch eine Beteiligung des nicht direkt gewählten Europäischen Parlaments lehnt der Präsident ab, denn es sei nicht repräsentativ und habe keine Vollmachten.

Unterzeichnung des Moskauer Vertrages

Durchbruch für die Ostpolitik: Im Kreml unterzeichnen Bundeskanzler Brandt, Ministerpräsident Kossygin sowie die Außenminister Scheel und Gromyko am 12. August 1970 den deutsch-sowjetischen Vertrag über Gewaltverzicht und Zusammenarbeit. Danach trifft Brandt erstmals mit dem sowjetischen Generalsekretär Breschnew zum Gespräch zusammen.

Die im Moskauer Vertrag vereinbarte Unverletzlichkeit aller Grenzen in Europa schließt die Oder-Neiße-Grenze und die Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR ein. In einem Brief stellt die Bundesregierung aber klar, dass die deutsche Einheit ihr Ziel bleibt.

Am 18. September 1970 gibt Willy Brandt im Bundestag eine Erklärung zum Vertrag ab, dessen Leitsätze Egon Bahr ausgehandelt hat. Der CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel übt deutliche Kritik.

Kontroverse Haushaltsdebatte

Bei den Bundestagsberatungen über das Haushaltsgesetz für das Jahr 1971 und den Finanzplan des Bundes 1970–1974 prallen am 24. September 1970 die gegensätzlichen Auffassungen von Regierung und Opposition über den Zustand der Staatsfinanzen und die wirtschaftliche Lage in der Bundesrepublik hart aufeinander. Der von Finanzminister Alex Möller (SPD) eingebrachte Haushaltsentwurf wird von Franz Josef Strauß (CSU) im Plenum scharf kritisiert.

Die CDU/CSU wirft der sozialen-liberalen Koalition vor, mit der über 12% betragenden Erhöhung der Staatsausgaben die schon steigenden Preise noch weiter nach oben zu treiben. Bundeskanzler Willy Brandt weist das energisch zurück und spricht von „Inflationsgerede“. Im internationalen Vergleich sei die Teuerungsrate in der Bundesrepublik niedrig.

Plädoyer für Bildungsreform

Die Bildungsreform in der Bundesrepublik voranzutreiben ist ein zentrales Anliegen der SPD-FDP-Koalition. Bei der Bundestagsdebatte um den Bildungsbericht der Bundesregierung am 14. Oktober 1970 ergreift Willy Brandt selbst das Wort. Der Bundeskanzler betont, die Bildungsreform sei eine „Gemeinschaftsaufgabe par excellence“. Er fordert, dass in der Bund-Länder-Kommission, dem Deutschen Bildungsrat, bald die Entscheidung über einen langfristigen Bildungsgesamtplan getroffen werden müsse.

Den Zugang zu Bildung und Ausbildung zu verbessern, bedeutet für Brandt dreierlei: Demokratisierung, Chancengleichheit und Zukunftssicherung. Wörtlich sagt er: „Weder Herkunft noch Besitz, weder Alter noch Konfession, weder Wohnort noch Geschlecht sollen (…) das Bürgerrecht auf Bildung einschränken.“

Erklärung zur Europapolitik

Bei allen Fortschritten in der Ostpolitik wird Willy Brandt nicht müde zu betonen, wie sehr ihm an der Einigung Westeuropas liegt. Anlässlich der Beratung und Verabschiedung zweier Gesetze, die zum einen der Europäischen Gemeinschaft (EG) eigene Einnahmen verschaffen und zum anderen die Befugnisse des Europa-Parlaments erweitern, gibt der Bundeskanzler am 6. November 1970 im Bundestag eine Erklärung zur Europapolitik ab.

Für die 1970er Jahre verkündet Brandt fünf Ziele der Bundesregierung: Baldige Erweiterung der EG, Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion, Weiterentwicklung der außenpolitischen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten, Etablierung einer Partnerschaft zwischen EG und USA mit Übernahme weltpolitischer Verantwortung, Kommunikation und Kooperation mit den Staaten Osteuropas.

Grenzvertrag mit Polen und Kniefall in Warschau

Nach zehnmonatigen Verhandlungen unterzeichnen Bundeskanzler Brandt und Ministerpräsident Cyrankiewicz am 7. Dezember 1970 in Warschau den deutsch-polnischen Vertrag. Die Bundesrepublik erkennt die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens an. Beide Staaten verpflichten sich zudem zum Gewaltverzicht und wollen diplomatische Beziehungen miteinander aufnehmen. Der Warschauer Vertrag, den Willy Brandt in einer Fernsehansprache begründet, ist ein weiterer Meilenstein der Ostpolitik.

Weltweit großes Aufsehen erregt, dass der Kanzler bei der Kranzniederlegung vor dem Denkmal für den Warschauer Ghetto-Aufstand von 1943 spontan auf die Knie fällt und so der Millionen Opfer des von Hitler-Deutschland begangenen Völkermords gedenkt. Eine knappe Mehrheit der Bundesbürger lehnt die Geste als übertrieben ab.

Deutsch-französische Gespräche in Paris

Traditionell treffen sich der Kanzler der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs Staatspräsident sowie Minister beider Länder alle sechs Monate zu gemeinsamen Beratungen. Am 25./26. Januar 1971 finden die Konsultationen in Paris statt. Ganz oben auf der Agenda von Willy Brandt und Georges Pompidou steht die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, die stufenweise eingeführt werden soll.

Außerdem erörtern beide den Stand der Verhandlungen über den Beitritt Großbritanniens zur EWG, insbesondere den künftigen britischen Finanzbeitrag zur Gemeinschaft. Zu den weiteren Themen zählen die geplante Ost-West-Konferenz über Sicherheit in Europa, die Berlin-Verhandlungen, die Ostpolitik und der Nahost-Konflikt. Im Juli und Dezember 1971 gibt es zwei weitere deutsch-französische Gipfeltreffen.

Kritik am „Teil-Kanzler“

Willy Brandts großes Engagement in der Ostpolitik und für die westeuropäische Einigung wird international hochgelobt. Im Januar 1971 kürt ihn das amerikanische „Time Magazin“ zum „Man of the Year“. In der Bundesrepublik mehren sich derweil die Stimmen, die dem Kanzler vorhalten, er kümmere sich zu wenig um die innenpolitischen Probleme.

Diesen Vorwurf erheben auch Journalisten, die Brandts Ostpolitik voll unterstützen. „Spiegel“-Chefredakteur Günter Gaus fordert in einem Artikel: Es müsse ein Mann her „fürs Innere, für die Konjunkturpolitik samt Steuerplanung“, „denn vom Teil-Kanzler Brandt ist die Hinwendung zur Innenpolitik wohl nicht mehr zu erwarten“. Brandt reagiert verärgert. In einem Brief schreibt er Gaus am 15. Februar 1971, seit langem habe ihm nichts so geschadet.

Eröffnung der „Woche der Brüderlichkeit“

Zur Eröffnung der christlich-jüdischen „Woche der Brüderlichkeit“ hält Bundeskanzler Willy Brandt am 21. März 1971 in Köln eine viel beachtete Rede für Toleranz und gegen Rassismus. Er betont, dass der Einsatz für die Menschenrechte zu Hause beginne, und prangert dabei die Diskriminierung der so genannten „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik an.

Zum ersten Mal nimmt Brandt auch Stellung zu seinem Kniefall am 7. Dezember 1970: „Wo, wenn nicht dort, wo das Warschauer Ghetto stand, wäre für einen deutschen Bundeskanzler der Platz, die Last der Verantwortung zu spüren und (…) Schuld abzutragen!“ Die Erinnerung an den millionenfachen Mord an den Juden Europas präge besonders die deutsch-israelischen Beziehungen, so Brandt. Niemand dürfe das Lebensrecht des Staates Israels in Frage stellen.

Deutschland-Besuch von Premier Heath

Edward Heath, Großbritanniens konservativer Premierminister, kommt vom 4. bis 6. April 1971 zu einem offiziellen Besuch nach Deutschland, den er in West-Berlin beginnt. In den Gesprächen mit Bundeskanzler Willy Brandt am 5./6. April in Bonn stehen die Verhandlungen über den britischen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG) im Vordergrund.

Trotz des harten Auftretens der französischen Regierung ist Brandt optimistisch. Staatspräsident Georges Pompidou sei flexibler, als es scheine, und wolle ein positives Ergebnis. Unter vier Augen und in größerer Runde sprechen Brandt und Heath auch über die außenpolitische Zusammenarbeit der EG-Staaten, Verteidigungs- und Abrüstungsfragen, die Berlin-Verhandlungen sowie die Ost- und Deutschlandpolitik. Anfang Mai 1971 reist der Kanzler nach London.

Währungskrise und Rücktritt des Finanzministers

In einem Schreiben an Bundeskanzler Willy Brandt erklärt Finanzminister Alex Möller (SPD) am 12. Mai 1971 seinen Rücktritt. Als Gründe nennt Möller ständig steigende Ausgabenwünsche seiner Kabinettskollegen und fehlende Unterstützung des Kanzlers. Nachfolger wird Karl Schiller (SPD), der nun als „Superminister“ das Wirtschafts- und das Finanzressort leitet.

Möllers Abgang erfolgt inmitten einer Währungskrise, die Anfang Mai durch eine massive Dollarzufuhr nach Europa ausgelöst worden ist. Um die Inflation einzudämmen, beschließt das Bundeskabinett am 9. Mai 1971 u. a. die Freigabe des Wechselkurses der D-Mark und eine Haushaltssperre. Zwei Tage später ruft Brandt im Bundestag Arbeitgeber und Gewerkschaften dazu auf, die Preisstabilisierung durch moderate Tarifabschlüsse zu unterstützen.

USA-Reise des Bundeskanzlers

Nach einem kurzen Aufenthalt in Jamaika am 12./13. Juni 1971 stattet Bundeskanzler Willy Brandt den Vereinigten Staaten einen informellen Besuch ab. In Washington D. C. trifft er sich am 15. Juni mit Präsident Nixon sowie mit Außenminister Rogers. An oberster Stelle einer langen Themenliste stehen die Berlin-Verhandlungen der Vier Mächte, die kurz vor dem Abschluss stehen.

Darüber hinaus erörtern Präsident und Kanzler vor allem die geplanten Ost-West-Gespräche über Truppenreduzierungen (MBFR) und Sicherheit in Europa, das europäisch-amerikanische Verhältnis, die internationale Währungskrise und die Annäherung der USA an China. Die Ostpolitik, die in Amerika auf einige Vorbehalte stößt, wird nur gestreift. Zum Abschluss der Reise hält Brandt sich am 17./18. Juni 1971 in New York auf.

Rede über „Politik für den Menschen“

In der Evangelischen Akademie in Tutzing spricht Bundeskanzler Willy Brandt am 13. Juli 1971 zum Thema „Eine Politik für den Menschen – Phrase oder Programm?“ Seine Rede gibt Einblicke in das ideelle Fundament der Reformpolitik von SPD und FDP.

In einer freien Gesellschaft und Wirtschaft würden viele Bedürfnisse der Menschen aus eigener Initiative befriedigt, erklärt Brandt. Bei bestimmten Grundbedürfnissen sei die Politik aber unmittelbar gefordert. In der Bundesrepublik gebe es vor allem bei der Wohnraumversorgung, im Gesundheitssektor sowie bei sozialer Sicherheit und Umweltschutz staatlichen Handlungsbedarf. Der Kanzler weist auch auf die große Bedeutung der immateriellen Bedürfnisse für die „Qualität des Lebens“ hin, z. B. sexuelle Selbstbestimmung, Demokratisierung und Gerechtigkeit.

Reformen für Bildung, Umwelt, Mitbestimmung

Nach der Sommerpause setzt die sozial-liberale Regierung weitere Reformen durch. Am 26. August 1971 verabschiedet der Bundestag das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG), das den Zugang zu höherer Bildung erleichtern soll. Studierende aus einkommensschwachen Familien können finanzielle Unterstützung erhalten.

Nachdem die Bundesregierung bereits 1970 Sofortmaßnahmen für den Umweltschutz getroffen hat, beschließt das Kabinett am 29. September 1971 das erste Umweltprogramm der Bundesrepublik. Bundeskanzler Brandt schreibt dazu im Vorwort: „Die Erhaltung einer gesunden und ausgewogenen Umwelt gehört zu den Existenzfragen der Menschheit.“

Die Rechte von Betriebsräten und Arbeitnehmern erweitert das novellierte Betriebsverfassungsgesetz, das den Bundestag am 10. November 1971 passiert.

Unterzeichnung des Berlin-Abkommens

Das Abkommen über Berlin, das die Botschafter der USA, Großbritanniens, Frankreichs und der Sowjetunion am 3. September 1971 unterzeichnen, garantiert die Zufahrtswege von und nach Berlin und bestätigt die „besonderen Bindungen“ West-Berlins an die Bundesrepublik.

In einem Schreiben an US-Präsident Richard Nixon wertet Bundeskanzler Willy Brandt die Regelungen als großen Erfolg für den Westen. In einer Rundfunkansprache erklärt er, die eigentliche Bedeutung des Abkommens liege darin, „dass es in Zukunft keine Berlin-Krisen mehr geben soll“.

Infolge der Vier-Mächte-Vereinbarung schließen die Bundesrepublik und die DDR Ende 1971 ein Transitabkommen. Ein Abkommen zwischen dem Senat und der DDR-Regierung ermöglicht und erleichtert den West-Berlinern, nach Ost-Berlin und in die DDR zu reisen.

Bei Breschnew auf der Krim

Auf Einladung des sowjetischen Parteichefs Leonid Breschnew trifft Bundeskanzler Willy Brandt am 16. September 1971 auf der Halbinsel Krim ein. Während des dreitägigen Aufenthalts sprechen beide Politiker mehr als 16 Stunden miteinander über die beiderseitigen Beziehungen und Ost-West-Themen. In der ungezwungenen Atmosphäre beginnen Brandt und Breschnew Vertrauen zueinander zu entwickeln. „Der Abbau von Feindbildern, gegenseitig, war mit Händen zu greifen“, erinnert sich Egon Bahr später.

Brandt möchte die Entspannungspolitik durch gleichgewichtigen Truppenabbau in Europa vorantreiben. Doch in diesem Punkt bleibt Breschnew unverbindlich. Zu Unrecht argwöhnen die CDU/CSU und einige der westlichen Partner, dass die Ostpolitik des Kanzlers die Bundesrepublik auf einen Neutralitätskurs führe.

Bekanntgabe des Friedensnobelpreises

Der Bundestag in Bonn debattiert über den Bundeshaushalt für das Jahr 1972, als Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) die Sitzung am 20. Oktober 1971, kurz nach 17 Uhr, überraschend unterbricht. Er teilt mit, dass das Nobel-Komitee in Oslo Bundeskanzler Willy Brandt den Friedensnobelpreis zuerkannt habe. Die Abgeordneten von SPD und FDP erheben sich und applaudieren lebhaft. Dem Beifall schließen sich auch einzelne Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion an, die überwiegend sitzen bleibt.

Innerlich tief bewegt, nimmt Brandt die Glückwünsche des Parlamentspräsidenten und der drei Fraktionsvorsitzenden entgegen. In einer kurzen Dankesrede sagt er: „Dies ist eine hohe und sehr verpflichtende Auszeichnung. Ich werde alles tun, mich dieser Ehrung in meiner weiteren Arbeit würdig zu erweisen.“

SPD-Bundesparteitag in Bad Godesberg

Auf ihrem außerordentlichen Parteitag, der am 18. November 1971 in Bonn-Bad Godesberg beginnt, diskutiert die SPD kontrovers über die Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die von der Bundesregierung geplante Steuerreform löst scharfe Auseinandersetzungen aus. Eine Reihe von Anträgen des Parteivorstands findet keine Mehrheit und wird durch radikalere Beschlüsse ersetzt.

Trotz klarer Warnungen von Bundeskanzler Willy Brandt und „Superminister“ Karl Schiller fordern die Delegierten einen Spitzensteuersatz von 60% bei der Einkommensteuer und eine Erhöhung der Körperschaftssteuer von 52 auf 56%. Vertreter des linken Flügels argumentieren, dass man für eine strukturverändernde Politik „die Grenzen der Belastbarkeit“ erproben müsse. Der Parteitag wird am 17./18. Dezember 1971 fortgesetzt und beendet.

Verleihung des Friedensnobelpreises

In der Aula der Universität Oslo nimmt Bundeskanzler Willy Brandt am 10. Dezember 1971 Urkunde und Medaille des Friedensnobelpreises 1971 entgegen. In der Begründung des Nobel-Komitees heißt es, Brandt habe „im Namen des deutschen Volkes die Hand zu einer Versöhnungspolitik zwischen alten Feindländern ausgestreckt. Er hat im Geiste des guten Willens einen hervorragenden Einsatz geleistet, um Voraussetzungen für den Frieden in Europa zu schaffen.“

In seiner Dankesrede betont Brandt, wie viel es ihm bedeutet, „nach den unauslöschlichen Schrecken der Vergangenheit den Namen meines Landes und den Willen zum Frieden in Übereinstimmung gebracht zu sehen“. Einen Tag nach der Preisverleihung hält er an der Osloer Universität einen vielbeachteten Vortrag zum Thema „Friedenspolitik in unserer Zeit“.

Treffen mit Nixon in Florida

Begleitet von Außenminister Walter Scheel, kommt Bundeskanzler Willy Brandt zwischen Weihnachten und Neujahr 1971 in Key Biscayne (Florida) mit Präsident Richard Nixon zusammen, um sich über die weltpolitische Lage auszutauschen und in Ost-West-Fragen abzustimmen. Auf Wunsch Nixons, der 1972 nach Peking und Moskau reisen will, berichtet Brandt von seinen Erfahrungen mit Breschnew und dessen Ansichten über China.

Weitere Themen sind die Ratifizierung der Ostverträge, die Gespräche der Bundesrepublik mit der DDR, das Verhältnis EG-USA, die Begrenzung strategischer Atomwaffen (SALT), der mögliche Abbau von Truppen (MBFR) und die Konferenz über Sicherheit in Europa, der Nahost-Konflikt und der Vietnam-Krieg. Anschließend macht Brandt mit seiner Familie noch einige Tage Urlaub in Florida.

Beschluss gegen Extremisten im Staatsdienst

Um Verfassungsfeinde vom Staatsdienst fernzuhalten, fassen Bundeskanzler Willy Brandt und die Ministerpräsidenten der Länder am 28. Januar 1972 folgenden Beschluss: Alle Bewerber für Beamtenstellen werden künftig auf „verfassungsfeindliche Aktivitäten“ oder Mitgliedschaft in einer „verfassungsfeindlichen Organisation“ überprüft. Die Regelung richtet sich vor allem gegen Mitglieder der DKP, die sich 1968 als kommunistische Partei neu gegründet hat.

Gegen die Überprüfung durch den Verfassungsschutz und die daraus folgenden Entlassungen regt sich Protest, auch in der SPD. Obwohl er die Sorge vor einer linksextremen Unterwanderung für übertrieben hält, verteidigt der Kanzler den Beschluss. Aber schon 1973 fordert er Korrekturen. Später bezeichnet Brandt den „Radikalenerlass“ als Fehler.

Appell gegen terroristische Gewalt

In der aufgeheizten Debatte über linksextreme Gewalt wendet sich Bundeskanzler Willy Brandt am 4. Februar 1972 in einer Fernsehansprache an die Bundesbürger. Hintergrund ist die bis dato erfolglose Fahndung nach den Mitgliedern der 1970 gegründeten „Rote-Armee-Fraktion“ (RAF). Sie wird nach ihren Anführern auch „Baader-Meinhof-Gruppe“ genannt und bekämpft das System der Bundesrepublik mit terroristischen Mitteln.

Brandt betont, der demokratische Staat könne die Gewalt weder akzeptieren noch dulden und sei nicht schlapp. Der Kanzler mahnt aber auch zur Besonnenheit, denn „blindes Draufschlagen“ entspreche nicht dem Grundgesetz. Nach fünf Sprengstoffanschlägen mit vier Toten werden im Juni 1972 mehrere RAF-Mitglieder verhaftet, darunter Andreas Baader, Ulrike Meinhof und Gudrun Ennslin.

Staatsbesuch beim Schah von Persien

Knapp fünf Jahre nach dem Schah-Besuch in der Bundesrepublik reist Bundeskanzler Willy Brandt in den Iran. Über seine Vier-Augen-Gespräche mit Schah Reza Pahlavi und Ministerpräsident Hoveyda am 6./7. März 1972 fertigt Brandt noch in Teheran eine Aufzeichnung an. Demnach sieht er gute Chancen, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und dem Iran auszubauen, der über große Ölvorkommen verfügt und die Industrialisierung vorantreiben will.

Der Kanzler lobt die Aufbauleistungen des Landes, enthält sich aber jeder Kritik an der brutalen Diktatur und ihren schweren Menschenrechtsverletzungen. Hinsichtlich geplanter Hinrichtungen von Regimegegnern bittet Brandt die iranische Regierung lediglich darum, einen Vertreter von Amnesty International in Teheran zu empfangen.

Keine Mehrheit für Misstrauensantrag

Die harte Auseinandersetzung um die Ostpolitik erreicht im Frühjahr 1972 ihren Höhepunkt und vertieft den Graben zwischen Anhängern und Gegnern Willy Brandts. Nach Übertritten mehrerer SPD- und FDP-Abgeordneter zur Opposition glaubt der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel eine Mehrheit im Bundestag zu haben. Durch ein konstruktives Misstrauensvotum will er Brandt am 27. April 1972 als Bundeskanzler ablösen.

Gespannt verfolgen Millionen Deutsche die Debatte und die Abstimmung in Bonn. Spontan kommt es zu Arbeitsniederlegungen und zu Sympathiekundgebungen für Brandt. Völlig unerwartet scheitert Barzel, dem zwei Stimmen fehlen. Gerüchte über Bestechung machen die Runde. Erst nach 1990 wird enthüllt, dass die DDR zwei Abgeordneten der CDU/CSU 50.000 DM gezahlt hat, damit Brandt Kanzler bleibt.

Ratifizierung der Ostverträge

Da seit Ende April 1972 keine Seite im Bundestag eine Mehrheit hat, sind SPD und FDP bei der Ratifizierung der Ostverträge auf die Mitwirkung der CDU/CSU angewiesen. Am 17. Mai 1972 stimmt das Parlament in Bonn – bei überwiegender Stimmenthaltung der Opposition – dem Moskauer Vertrag und dem Warschauer Vertrag von 1970 zu. Dadurch ist der Weg frei für das Inkrafttreten des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin und der damit verbundenen innerdeutschen Regelungen.

Zuvor haben sich die drei Bundestagsfraktionen auf eine „Gemeinsame Entschließung“ verständigt. Darin heißt es, die Ostverträge würden einen Friedensvertrag nicht vorwegnehmen und „keine Rechtsgrundlage für die heute bestehenden Grenzen“ schaffen. Für Bundeskanzler Willy Brandt liegen die Formulierungen hart am Rande des Vertretbaren.

Beim SI-Kongress in Wien

Beim Kongress der Sozialistischen Internationale (SI) Ende Juni 1972 in Wien wird der SPD-Vorsitzende Willy Brandt im Amt des Vizepräsidenten bestätigt, das er seit 1966 innehat. SI-Präsident bleibt der Österreicher Bruno Pittermann.

Zu dessen Stellvertretern zählt u. a. auch Golda Meir. Mit ihr trifft Brandt nach einem Abendempfang beim österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky am 26. Juni 1972 zusammen. Die israelische Ministerpräsidentin hat den deutschen Kanzler im Februar zu einem Besuch in ihr Land eingeladen. Brandt verspricht, so schnell wie möglich nach der im Herbst 1972 geplanten Bundestagswahl nach Israel zu kommen.

Die Botschaft seiner Rede vor den SI-Delegierten lautet: „Der Haupttrend in der internationalen Politik ist der Übergang von der Konfrontation zur Kooperation.“

Rücktritt des „Superministers“

Mit Schreiben vom 2. Juli 1972 teilt Karl Schiller Bundeskanzler Willy Brandt mit, am 7. Juli 1972 als Minister für Wirtschaft und Finanzen zurückzutreten. Anlass ist, dass sich die Bundesregierung Ende Juni in einem währungspolitischen Streit auf die Seite des Bundesbankchefs gestellt hat. Hauptgrund ist jedoch die mangelnde Unterstützung für Schillers Sparmaßnahmen.

In einem Brief vom 6. Juli 1972 nimmt Brandt den Rücktritt an. Er dankt Schiller, weist aber dessen Vorwürfe zurück. Der Kanzler spricht auch an, dass das rechthaberische Auftreten des „Superministers“ die Zusammenarbeit im Kabinett immer schwerer gemacht hat. Schillers Nachfolger wird Helmut Schmidt. Mit dem Rücktritt verliert die SPD eines ihrer Zugpferde. Schiller tritt sogar aus der Partei aus und wirbt für die CDU/CSU.

Start des Bundes­tagswahlkampfs

Im Sonderzug reist Willy Brandt im August 1972 in Urlaubsgebiete in der Bundesrepublik. Es ist der Auftakt des Bundestagswahlkampfs, der ganz im Zeichen des großen persönlichen Ansehens des Kanzlers steht. Die Pattsituation, die seit Ende April zwischen SPD und FDP auf der einen und der CDU/CSU auf der anderen Seite im Parlament herrscht, kann nur durch eine Neuwahl des Bundestags überwunden werden. Darin sind sich Regierung und Opposition eigentlich einig.

Doch über den Weg zu Neuwahlen haben sich die Parteien nicht verständigen können. Ein Selbstauflösungsrecht des Bundestags gibt es nicht. Der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel fordert den Rücktritt des Bundeskanzlers. Brandt lehnt das ab. Im Einvernehmen mit Vizekanzler Walter Scheel hat er Ende Juni 1972 entschieden, Wahlen im November 1972 anzustreben.

Olympia-Attentat in München

Die bis dahin so heiteren Olympischen Spiele von München werden an ihrem elften Tag schwer erschüttert. Am 5. September 1972 dringen acht palästinensische Terroristen in die Unterkunft der israelischen Mannschaft ein, erschießen zwei Sportler und nehmen neun Geiseln. Die Attentäter fordern u. a. die Freilassung von in Israel inhaftierten Palästinensern.

Den ganzen Tag über verhandelt ein von Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) geleiteter Krisenstab mit den Geiselnehmern. Auch Bundeskanzler Willy Brandt ist vor Ort. Um 20.00 Uhr gibt er eine Fernseherklärung ab. Am späten Abend unternimmt die Polizei am Flughafen Fürstenfeldbruck einen chaotisch verlaufenden Befreiungsversuch, der tragisch scheitert. Alle israelischen Geiseln, ein Polizist und fünf Terroristen kommen dabei ums Leben.

Vertrauensfrage und Bundestagsauflösung

Um Neuwahlen herbeizuführen, stellt Bundeskanzler Willy Brandt am 22. September 1972 im Bundestag die Vertrauensfrage nach Artikel 68 des Grundgesetzes. Nur wenn eine Mehrheit gegen den Regierungschef votiert, kann er dem Bundespräsidenten vorschlagen, das Parlament aufzulösen. Die beabsichtigte Niederlage wird erreicht, indem fast alle Minister von SPD und FDP, die dem Bundestag angehören, der Abstimmung fernbleiben. Somit sprechen nur 233 Abgeordnete dem Kanzler das Vertrauen aus, während 248 gegen ihn stimmen.

Noch am selben Tag löst Bundespräsident Gustav Heinemann den Bundestag auf. Die Wahl wird auf den 19. November 1972 terminiert. Die sozial-liberale Koalition und die CDU/CSU sind aber auch zum Kompromiss fähig: Einmütig beschließen sie am 21. September 1972 das Rentenreformgesetz.

SPD-Wahlparteitag in Dortmund

Der Parteitag der SPD in Dortmund am 12./13. Oktober 1972 leitet die heiße Phase des Bundestagswahlkampfs ein, den die Partei ganz auf ihren Spitzenkandidaten ausrichtet. Ihr Motto lautet: „Willy Brandt muß Bundeskanzler bleiben.“ Die Bevölkerung ist stark polarisiert. Von seinen Anhängern wird Brandt geliebt und verehrt. Von Gegnern wird er nicht selten gehasst und geschmäht.

Große Unterstützung erhält der Bundeskanzler von linksliberalen Medien und durch die Sozialdemokratische Wählerinitiative, in der sich Autoren, Künstler, Intellektuelle und viele Bürger engagieren. Für Empörung bei der Opposition sorgt die Äußerung Brandts in einem „Spiegel“-Interview Ende September 1972, dass bei den zur CDU/CSU übergelaufenen SPD- und FDP-Abgeordneten ohne Zweifel Korruption im Spiel gewesen sei.

Gipfeltreffen der EG in Paris

Gut zwei Monate vor der Aufnahme Dänemarks, Großbritanniens und Irlands versammeln sich die Staats- und Regierungschefs der erweiterten Europäischen Gemeinschaft (EG) am 19./20. Oktober 1972 in Paris. Sie beschließen u. a. den Ausbau der EG zur Europäischen Union und einen Zeitplan zur Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion bis 1980. Die Idee für den Gipfel stammt von Bundeskanzler Willy Brandt, der sich bei der Vorbereitung der Konferenz eng mit Frankreichs Präsident Georges Pompidou abgestimmt hat.

Eine herbe Enttäuschung ist, dass Norwegen trotz des erfolgreichen Abschlusses der Beitrittsverhandlungen fehlt. Mitte September 1972 hat Brandt auf einer Veranstaltung in Oslo für ein Ja der Norweger zur EG-Mitgliedschaft geworben. Doch bei der Volksabstimmung sagt die Mehrheit Nein.

Freilassung der Olympia-Attentäter

Entgegen der dringenden Bitte der israelischen Regierung lässt die Bundesrepublik die drei überlebenden Olympia-Attentäter am 29. Oktober 1972 aus der Haft frei und nach Libyen ausfliegen. Die Bundesregierung und die bayerische Landesregierung erfüllen damit die Forderung von PLO-Terroristen, die am selben Tag eine Lufthansa-Maschine mit 20 Menschen an Bord entführt haben. Israel wertet das als „Kapitulation vor dem Terrorismus“ und beordert seinen Botschafter in Bonn vorübergehend nach Hause.

In einer persönlichen Mitteilung an Premierministerin Golda Meir verteidigt Bundeskanzler Willy Brandt die Entscheidung, der Rettung der Entführten den Vorrang gegeben zu haben. Durch den direkten Kontakt zwischen Brandt und Meir wird die schwere Krise der deutsch-israelischen Beziehungen etwas entschärft.

Triumph der SPD bei der Bundestagswahl

Bei der vorgezogenen Wahl zum 7. Deutschen Bundestag am 19. November 1972 erringt die SPD mit 45,8% der Stimmen einen historischen Sieg. Es ist ein Plebiszit für Bundeskanzler Willy Brandt und seine Politik. Da auch die FDP unter Vizekanzler Walter Scheel mit 8,4% gestärkt aus der Wahl hervorgeht, hat die sozial-liberale Koalition eine deutliche Mehrheit. Die CDU/CSU und ihr Kanzlerkandidat Rainer Barzel sind mit 44,9% klar geschlagen.

Auf dem Gipfel seiner politischen Karriere ist Willy Brandt körperlich ausgelaugt. Wegen einer nicht länger aufschiebbaren Stimmbandoperation muss er sich am 24. November 1972 ins Krankenhaus begeben. Danach darf Brandt zwei Wochen nicht sprechen und nicht rauchen. An den Koalitionsverhandlungen von SPD und FDP kann der Kanzler praktisch nicht teilnehmen.

Deutsch-deutscher Grundlagenvertrag

Nach langen und schwierigen Verhandlungen unterzeichnen Egon Bahr und Michael Kohl am 21. Dezember 1972 in Ost-Berlin den Grundlagenvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR. Darin vereinbaren die beiden deutschen Staaten die Aufnahme gleichberechtigter, gutnachbarlicher Beziehungen und die wechselseitige Errichtung „Ständiger Vertretungen“ in den Hauptstädten.

In den Worten von Bundeskanzler Willy Brandt bricht der Vertrag das Eis im Verhältnis zur DDR auf. Seine Regierung hält weiter an der Einheit der Nation fest. Am 26. Mai 1972 haben Bahr und Kohl bereits den deutsch-deutschen Verkehrsvertrag unterschrieben, der Bundesbürgern erhebliche Erleichterungen bei Reisen in die DDR bringt. In der Folge nimmt der Besuchsverkehr von West- nach Ostdeutschland stark zu.

Regierungserklärung des Kanzlers

Am 14. Dezember 1972 erneut zum Bundeskanzler gewählt, gibt Willy Brandt am 18. Januar 1973 im Bundestag eine Regierungserklärung zu den Vorhaben in seiner zweiten Amtszeit ab. In der Rede, die er Anfang Januar mit Vizekanzler Walter Scheel während eines Ferienaufenthalts auf Fuerteventura abgestimmt hat, betont Brandt die Kontinuität der Regierungspolitik. Die Ziele klingen aber deutlich zurückhaltender als 1969.

Auf die Veränderungen im Kabinett, in dem die FDP fünf statt bisher drei Minister stellt, hat der Kanzler kaum Einfluss nehmen können. Einen Vermerk des seinerzeit erkrankten Brandt für die Koalitionsverhandlungen hat Herbert Wehner in seiner Aktentasche „vergessen“. Vor allem die Ablösung von Horst Ehmke durch Horst Grabert als Chef des Kanzleramts ist keine gute Entscheidung.

Internationale Währungskrise

Der anhaltende Verfall des US-Dollars sorgt Anfang 1973 erneut für Währungsturbulenzen. Vom 2. bis 18. März 1973 sind viele europäische Devisenbörsen geschlossen.

Sechs EG-Staaten, die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Länder, begründen daher am 11./12. März 1973 den „Europäischen Wechselkursverbund“, auch „Währungsschlange“ genannt. Bei festen Wechselkursen untereinander können sich die sechs Währungen gemeinsam gegenüber dem Dollar flexibel bewegen.

Bundeskanzler Willy Brandt begrüßt die Beschlüsse am 15. März 1973 im Bundestag. Der starke Zufluss von Dollarkapital treibt derweil die Inflationsrate in der Bundesrepublik auf über 7%. Um den Preisanstieg einzudämmen, beschließt die Bundesregierung im Februar und Mai 1973 zwei Stabilitätsprogramme.

SPD-Bundesparteitag in Hannover

Im Frühjahr 1973 herrscht große Unruhe in der SPD. Nach dem Sieg bei der Bundestagswahl im November 1972 fordern die Jusos und die Parteilinke vom Vorsitzenden Willy Brandt eine „konsequent sozialistische“ Politik. Doch eine Abkehr vom Godesberger Programm und von den Wahlversprechen der SPD ist mit Brandt nicht zu machen. Im März 1973 droht er indirekt mit Rücktritt.

Unzufrieden mit dem Kanzler ist auch Herbert Wehner. Beim Parteitag im April 1973 kandidiert der SPD-Fraktionschef überraschend nicht mehr für den stellvertretenden Parteivorsitz. Unter Druck präsentiert sich Brandt in Hannover kämpferisch und durchsetzungsstark wie lange nicht. Am 13. April 1973 wird er mit 404 von 433 Stimmen als SPD-Vorsitzender bestätigt. Im neugewählten Vorstand ist der linke Flügel aber stärker denn je.

Staatsbesuch in Jugoslawien

Als erster deutscher Bundeskanzler reist Willy Brandt am 16. April 1973 nach Jugoslawien. Höhepunkt des Staatsbesuchs ist sein Treffen mit Marschall Tito auf der Adriainsel Brioni am 18. April.

Unter vier Augen warnt der jugoslawische Präsident seinen Gast eindringlich vor einem neuen arabisch-israelischen Krieg. Brandt nimmt Titos Sorgen sehr ernst und verspricht, in Kürze mit US-Präsident Nixon darüber zu sprechen. Auch bei seinem Israel-Besuch im Juni 1973 will der Kanzler sich für eine friedliche Lösung im Nahen Osten einsetzen.

In der hochumstrittenen Wiedergutmachungsfrage einigen sich Tito und Brandt im Grundsatz: Die Bundesrepublik Deutschland wird Jugoslawien keine Reparationen zahlen, sondern einen großzügigen Kredit zur Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gewähren.

Gespräche mit Nixon und mit Breschnew

Im Mai 1973 trifft Bundeskanzler Willy Brandt kurz nacheinander US-Präsident Richard Nixon und den sowjetischen Generalsekretär Leonid Breschnew.

Mit Nixon spricht Brandt am 1. Mai 1973 in Washington vor allem über das europäisch-amerikanische Verhältnis, die Ost-West-Entspannung und den Nahost-Konflikt. Selbstbewusst erklärt der Kanzler, dass die Europäische Gemeinschaft in „emanzipierter Partnerschaft“ mit den USA weltpolitische Mitverantwortung übernehmen wolle.

Beim ersten Besuch Breschnews in der Bundesrepublik vom 18. bis 22. Mai 1973 werden drei Regierungsabkommen unterzeichnet. Die hohen Erwartungen des Kremlführers im wirtschaftlichen Bereich kann Brandt aber nur zum Teil erfüllen. Ein Formelkompromiss überspielt die anhaltenden Differenzen bei der Auslegung des Berlin-Abkommens.

Staatsbesuch in Israel

Am 7. Juni 1973 kommt Willy Brandt als erster deutscher Bundeskanzler zu einem Staatsbesuch nach Israel. Noch am selben Abend fährt er zur Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Trotz gegenseitiger persönlicher Hochachtung sind seine Gespräche mit der Premierministerin Golda Meir schwierig. Wegen der deutsch-arabischen Wiederannäherung sorgt sich Israel um die Besonderheit der Beziehungen mit der Bundesrepublik.

Meir gelingt es, Brandt von ihrem vermeintlichen Friedenswillen im Nahost-Konflikt zu überzeugen. Auf ihre Bitte hin sagt er zu, Kairo mitzuteilen, dass Israel direkte Gespräche mit Ägypten führen wolle. Am letzten Besuchstag hat Brandt großes Glück, dass der Hubschrauber, in dem er sitzt, nicht abstürzt. Vor dem Bundestag in Bonn bewertet der Kanzler seine Reise sehr positiv.

Eröffnung der KSZE in Helsinki

Auf Außenministerebene beginnt am 3. Juli 1973 in Helsinki die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Zu den 35 Teilnehmerstaaten aus Europa und Nordamerika zählen auch die Bundesrepublik Deutschland und die DDR. Um dem Fernziel einer Europäischen Friedensordnung näher zu kommen, setzt sich die Bonner Regierung sehr dafür ein, die politische Entspannung zu verbreitern und durch militärische Abrüstung zu ergänzen.

Doch 1973 muss Bundeskanzler Willy Brandt ernüchtert feststellen, dass sich beides nicht so leicht verbinden lässt. Im Alleingang haben Amerikaner und Sowjets die KSZE von den Gesprächen über die gegenseitige und ausgewogene Verminderung von Streitkräften in Europa (MBFR) getrennt, die von NATO und Warschauer Pakt ab 30. Oktober 1973 in Wien geführt werden.

Sommerurlaub in Norwegen

Wie fast jedes Jahr verbringen Willy Brandt und seine Familie die Sommerferien 1973 in ihrem Häuschen bei Hamar in Norwegen. Von seinen persönlichen Referenten ist Günter Guillaume dabei, der in Bonn für die SPD-Termine des Bundeskanzlers zuständig ist. Seit Ende Mai 1973 weiß Brandt durch Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Verfassungsschutzpräsident Günther Nollau, dass sein Mitarbeiter der Spionage für die DDR verdächtigt wird.

Beweise haben die Sicherheitsbehörden aber keine. Fatalerweise folgt der Kanzler ihrem Rat, Guillaume in seiner Funktion zu belassen, damit der keinen Argwohn schöpft. Entgegen Brandts Annahme wird sein Referent im Norwegen-Urlaub vom deutschen Verfassungsschutz nicht überwacht. Guillaume hat sogar ungehinderten Zugang zu geheimen Fernschreiben.

Karlsruher Urteil zum Grundlagenvertrag

Der zwischen der Bundesrepublik und der DDR geschlossene Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Mit diesem Urteil bestätigt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 31. Juli 1973 die Auffassung der sozial-liberalen Bundesregierung in einem vom CSU-regierten Bundesland Bayern beantragten Normenkontrollverfahren.

Teile der Urteilsbegründung werten Kanzler Willy Brandt und die SPD jedoch als realitätsfern und als Behinderung ihrer Ost- und Deutschlandpolitik. Im Richterspruch heißt es: Das Deutsche Reich sei 1945 nicht untergegangen, sondern existiere fort, die staatsrechtliche Grenze zwischen beiden deutschen Staaten sei den Ländergrenzen in der Bundesrepublik ähnlich und die „Wiedervereinigung“ sei Verfassungsgebot. Die DDR-Führung reagiert empört.

Hohe Lohnforderung und „wilde Streiks“

1973 ist ein Jahr vieler Arbeitskämpfe in der Bundesrepublik. Wegen der stark steigenden Preise fordern die Gewerkschaften über 10% mehr Lohn. Als die Tarifabschlüsse darunter bleiben, kommt es vor allem in der Stahlindustrie zu spontanen, nicht organisierten Streiks. Ab Mai 1973 behindert zudem ein Bummelstreik der Fluglotsen sechs Monate lang den Flugverkehr, was besonders die Urlauber trifft.

Im August erreichen die „wilden Streiks“ mit dem Ausstand türkischer „Gastarbeiter“ im Kölner Ford-Werk ihren Höhepunkt. In einer über Fernsehen und Radio gesendeten Erklärung fordert Bundeskanzler Willy Brandt am 28. August 1973 dazu auf, die Spielregeln der Sozialordnung einzuhalten, die Position der Gewerkschaften nicht zu gefährden und die Stabilitätspolitik der Regierung zu unterstützen.

UNO-Rede und Konflikt mit Wehner

Als erster deutscher Bundeskanzler tritt Willy Brandt am 26. September 1973 vor die Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York. Acht Tage zuvor sind die Bundesrepublik Deutschland und die DDR gleichzeitig in die UNO aufgenommen worden.

In seiner Rede erklärt Brandt die Bereitschaft der Bundesrepublik, weltpolitische Mitverantwortung zu übernehmen. Zudem ruft er dazu auf, den Krieg zu ächten und die Armut in der Welt zu bekämpfen. Wörtlich sagt Brandt: „Wo Hunger herrscht, ist auf die Dauer kein Friede.“

Überschattet wird der USA-Besuch von Meldungen, wonach sich Herbert Wehner in Moskau verunglimpfend über den Kanzler geäußert habe. Brandt ist tief getroffen und will Wehners Rücktritt verlangen. Zurück in Bonn, nimmt er davon aber wieder Abstand – mangels Rückendeckung in der SPD.

Streit über Hilfe an Israel im Nahost-Krieg

Im Jom-Kippur-Krieg, der am 6. Oktober 1973 mit dem Überfall ägyptischer und syrischer Truppen auf Israel beginnt, nimmt die Bundesrepublik Deutschland offiziell eine neutrale Haltung ein. Tatsächlich aber duldet die Bonner Regierung insgeheim, dass die Amerikaner über bundesdeutsches Territorium Waffen an die anfangs schwer bedrängten Israelis liefern.

Erst nachdem Journalisten herausgefunden haben, dass US-Kriegsgerät in Bremerhaven auf Schiffe unter israelischer Flagge verladen wird, beschwert sich die sozial-liberale Bundesregierung am 25. Oktober 1973 offiziell beim US-Botschafter in Bonn. Das amerikanische Vorgehen sei, zumal drei Tage nach dem Waffenstillstand, mit der strikten Neutralität der Bundesrepublik im Nahost-Konflikt nicht vereinbar, so das Auswärtige Amt. Über den Einsatz der israelischen Frachter ist die Bundesregierung weder informiert noch konsultiert worden. Bundeskanzler Willy Brandt entscheidet, dass die Verladungen sofort beendet werden und die Schiffe die deutschen Hoheitsgewässer verlassen müssen.

Die USA und Israel reagieren mit äußerst harscher Kritik. In einem Brief an US-Präsident Richard Nixon weist Brandt am 28. Oktober 1973 den Vorwurf mangelnder Bündnissolidarität zurück. Doch Nixon bleibt verärgert, wie seine Antwort zwei Tage später zeigt. Worüber Willy Brandt 1973 öffentlich nicht sprechen kann, wird erst im Jahr 2000 sein Freund und Redenschreiber Klaus Harpprecht enthüllen: Während des Jom-Kippur-Kriegs hat auch die Bundeswehr Rüstungsmaterial an Israel geliefert.

Energiekrise und Sonntagsfahrverbote

Der Jom-Kippur-Krieg hat schwerwiegende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Um die Unterstützer Israels unter Druck zu setzen, drosseln sieben arabische Staaten die Erdölfördermengen und verhängen Ende Oktober 1973 einen Ölboykott gegen die USA und die Niederlande. Die Folge ist ein dramatischer Anstieg des Ölpreises.

Die Bundesregierung reagiert auf die Krise mit einem Energiesicherungsgesetz, für das sich Bundeskanzler Willy Brandt mit Nachdruck einsetzt und das am 9. November 1973 verabschiedet wird. Neben der Einführung von Tempolimits gehört zu den Sofortmaßnahmen auch ein Fahrverbot an vier Sonntagen im November und Dezember. Da sie einen Anstieg der Arbeitslosigkeit erwartet, verfügt die Bonner Regierung am 23. November 1973 auch einen Anwerbestopp für ausländische Arbeitskräfte.

Rede vor dem Europa-Parlament

Mit Willy Brandt spricht am 13. November 1973 zum ersten Mal ein deutscher Bundeskanzler vor dem Europäischen Parlament in Straßburg. In seiner Grundsatzrede legt er seine Vision von einem geeinten Europa dar. Vorweg äußert sich der Kanzler zum Nahost-Konflikt, der Europa und den Westen zu spalten droht. Brandt mahnt die Europäische Gemeinschaft zur Einigkeit und verteidigt die von ihr eine Woche zuvor verabschiedete Nahosterklärung.

Dass die EG darin erstmals fordert, auch die „legitimen Rechte der Palästinenser“ zu berücksichtigen, empört Israels Premierministerin Golda Meir. Sie wertet dies als Einknicken der Europäer vor dem Ölboykott der Araber. Meirs tiefe Verbitterung hat Brandt bei einem Treffen der Sozialistischen Internationale in London am 11. November direkt zu spüren bekommen.

60. Geburtstag und „Kanzler in der Krise“

An seinem 60. Geburtstag, den Willy Brandt am 18. Dezember 1973 feiert, steckt der Bundeskanzler in einem Tief. Exemplarisch für die Stimmung ist der „Spiegel“-Titel „Kanzler in der Krise“ acht Tage zuvor: Brandt erscheint abgehoben und führungsschwach. Im Konflikt mit Herbert Wehner hat er dessen Bitte nachgegeben, es noch einmal miteinander zu versuchen.

Die Zweifel wachsen, ob der Kanzler die vielen Probleme lösen kann. Vor allem die stark eingetrübte wirtschaftliche Lage macht vielen Sorge. In der Energiekrise findet die Europäische Gemeinschaft auch bei ihrem Gipfel in Kopenhagen am 14./15. Dezember 1973 keine gemeinsame Linie. In der Ost- und Deutschlandpolitik ist der Schwung erlahmt trotz der Unterzeichnung des deutsch-tschechoslowakischen Vertrags in Prag am 11. Dezember 1973.

Streit um Umweltbundesamt

Am 23. Januar 1974 beschließt das Bonner Kabinett, das Umweltbundesamt in West-Berlin zu errichten. Die DDR sieht darin einen Bruch des Vier-Mächte-Abkommens und droht, den Mitarbeitern des Amts die Durchreise über die Transitstrecken zu verweigern.

Per Brief bittet Bundeskanzler Willy Brandt deshalb US-Präsident Nixon, der Sowjetunion die westliche Rechtsauffassung klar zu machen. Zuvor hat sich Brandt schon bei Breschnew über das SED-Regime beschwert. Die DDR hat im Herbst 1973 die Mindestumtauschsätze für West-Besucher verdoppelt und verhält sich halsstarrig gegenüber der Bundesrepublik.

Um die deutsch-deutschen Gespräche voranzubringen, setzt der Kanzler verstärkt auf Herbert Wehner. Seit Ende Mai 1973 steht der SPD-Fraktionschef in engem Kontakt mit SED-Generalsekretär Erich Honecker.

Streik im Öffentlichen Dienst

Im ersten bundesweiten Streik des Öffentlichen Diensts, der am 10. Februar 1974 beginnt, legen über 200.000 Beschäftigte die Arbeit nieder. Sie fordern 15 % mehr Geld, aber Bund, Länder und Kommunen bieten nur 9,5% an. Der Arbeitskampf wird zur Kraftprobe zwischen dem Chef der Gewerkschaft ÖTV, Heinz Kluncker, und Bundeskanzler Willy Brandt.

Im Bundestag hat sich Brandt am 24. Januar 1974 klar gegen zweistellige Tariferhöhungen ausgesprochen, um die Inflation nicht zu beschleunigen. Doch nach drei Tagen Streik, an denen keine Busse und Bahnen fahren, Ämter geschlossen bleiben und der Müll nicht abgeholt wird, knickt die Arbeitgeberseite ein. Der Kanzler muss hinnehmen, dass die Tarifparteien sich auf 11% mehr Lohn und Gehalt einigen. Brandt steht als Verlierer da und denkt an Rücktritt.

Kritik am Kanzler nach Hamburg-Wahl

Nach großen Verlusten der SPD bei der Hamburger Bürgerschaftswahl am 3. März 1974 verschärft sich die Kritik am Parteivorsitzenden und Bundeskanzler Willy Brandt. Finanzminister Helmut Schmidt beklagt öffentlich den Zustand der SPD und fordert eine Neuorganisation der Bundesregierung. Bildungsminister Klaus von Dohnanyi schlägt vor, Schmidt solle „innenpolitischer Stellvertreter“ des Kanzlers werden und diesen so entlasten.

Die Partei ist stark verunsichert. Brandt meidet jedoch die offene Auseinandersetzung mit seinen Kritikern. Am 25. März 1974 erklärt er in einem Fernsehinterview, er halte nichts vom „Auf-den-Tisch-Hauen“. Seine Autorität stellt Brandt anders wieder her: Am 2. April verkündet er vor der Presse eine kämpferische, von ihm selbst entworfene Zehn-Punkte-Erklärung der SPD.

Reise nach Algerien und Ägypten

Vom 19. bis 24. April 1974 reist Bundeskanzler Willy Brandt zu zwei Staatsbesuchen nach Nordafrika. In Algier trifft er mit dem algerischen Staatspräsidenten Houari Boumedienne zusammen, einem der Sprecher der „Dritten Welt“, der eine „neue Weltwirtschaftsordnung“ fordert. Das durchaus kontroverse Gespräch mit Boumediène beeindruckt Brandt sehr. Es macht ihm, wie er später erklärt, die Bedeutung des Nord-Süd-Problems für den Weltfrieden voll bewusst.

Beim anschließenden Besuch in Kairo führt der Kanzler mehrere Vier-Augen-Gespräche mit Ägyptens Staatspräsident Anwar-al Sadat. Themen sind die deutsch-ägyptischen Beziehungen, das europäisch-arabische Verhältnis und der Nahost-Konflikt. Auf dem Rückflug bespricht Brandt mit seinem Berater Egon Bahr Details einer geplanten Kabinettsumbildung.

Verhaftung von Günter Guillaume

Den soeben aus Ägypten zurückgekehrten Willy Brandt empfangen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) und Kanzleramtschef Horst Grabert (SPD) am 24. April 1974 auf dem Flughafen Köln/Bonn mit einer bestürzenden Nachricht: Günter Guillaume, einer der Kanzlerreferenten, sei wegen des Verdachts der Spionage für die DDR verhaftet worden und habe bereits gestanden.

Zwei Tage später bringt Brandt vor dem Bundestag seine „tiefe menschliche Enttäuschung“ zum Ausdruck. Irrtümlich erklärt er dabei, Guillaume sei nicht mit Geheimsachen befasst gewesen. Dass dies für den Norwegen-Urlaub 1973 nicht zutrifft, wird erst vier Tage später klar. Noch am 29. April 1974 ist der Kanzler entschieden gegen einen Rücktritt, auch wenn er sich intern bereits zu seiner Mitverantwortung für die Einstellung Guillaumes bekennt.

Rücktritt als Bundeskanzler

Nicht nur die Boulevard-Medien spekulieren darüber, was der Spion Guillaume womöglich über das Privatleben Willy Brandts an die DDR verraten hat. Am 1. Mai 1974 wird dem Kanzler ein Dossier des Bundeskriminalamts überbracht, worin es heißt, Guillaume habe ihm Frauen „zugeführt“. Teils sind die Angaben falsch, teils aufgebauscht. Brandt ist empört über die Ausforschung seiner Intimsphäre und befürchtet eine neue Hetzkampagne gegen sich.

Nach einem Vier-Augen-Gespräch mit Herbert Wehner am Abend des 4. Mai in Bad Münstereifel fällt die Entscheidung zum Amtsverzicht. In einem Schreiben, das Bundespräsident Heinemann am 6. Mai 1974 um 23.35 Uhr übergeben wird, erklärt Brandt seinen sofortigen Rücktritt als Kanzler. Zwei Tage später betont er in einer Fernsehansprache, nicht erpressbar zu sein.

Bundespräsidentenwahl und Kanzlerwechsel

Dass die sozial-liberale Koalition weiter gut zusammenhält, beweisen SPD und FDP in der Woche nach Willy Brandts Rücktritt. Am 15. Mai 1974 wählt die Bundesversammlung in Bonn Außenminister Walter Scheel (FDP), der vorübergehend auch die Geschäfte des Kanzlers wahrnimmt, zum nächsten Bundespräsidenten. Einen Tag später wird Helmut Schmidt (SPD) vom Bundestag zum Nachfolger Brandts gewählt. Die Regierungserklärung des neuen Bundeskanzlers trägt das Motto „Kontinuität und Konzentration“.

Willy Brandt, der SPD-Vorsitzender bleibt, hat seine Fraktion am Tag vor der Präsidentenwahl in einer Rede zur Geschlossenheit aufgerufen. Das Bündnis von SPD und FDP habe eine historische Dimension und sei über 1976 hinaus notwendig, so Brandt. Auf die eigene Regierungszeit schaut er selbstbewusst zurück.

„Notizen zum Fall G.“

Der abrupte Abschied vom Kanzleramt ist ein tiefer Einschnitt für Willy Brandt. In den Sommermonaten 1974, die er mit seiner Frau Rut in Norwegen verbringt, schreibt er seine Kenntnisse, Rückschlüsse und Mutmaßungen über die GuillaumeAffäre nieder. Aus Brandts Sicht ist Herbert Wehner die Schlüsselfigur bei seinem Rücktritt. Der Verdacht: Um die Ablösung des Bundeskanzlers zu erreichen, habe Wehner ab 1973 insgeheim mit DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker zusammengewirkt.

Für diese Vermutung gibt es jedoch keine Beweise. Zu Lebzeiten hält Brandt seine Aufzeichnung weitgehend unter Verschluss. Knappe Auszüge sind schon in seinem Buch „Über den Tag hinaus“ zu finden, das im Herbst 1974 erscheint. Vollständig veröffentlicht werden die „Notizen zum Fall G.“ aber erst postum 1994.

Unterstützung für die „Nelken-Revolution“

Vom 19. bis 21. Oktober 1974 reist Willy Brandt erstmals nach Portugal. Ein halbes Jahr zuvor haben dort linksgerichtete Militärs in der so genannten „Nelken-Revolution“ die jahrzehntealte Salazar-Diktatur zu Fall gebracht. Bei einer großen Solidaritätskundgebung in Porto fordert Brandt am 20. Oktober 1974 schnelle finanzielle und wirtschaftliche Hilfe von außen, um Portugal den Übergang zur Demokratie zu erleichtern.

Der SPD-Vorsitzende ist auf Einladung der Sozialistischen Partei (PS) gekommen. Seit ihrer Gründung im April 1973 in Bad Münstereifel wird sie von der deutschen Sozialdemokratie großzügig unterstützt. Mário Soares, der Generalsekretär der PS, ist als Außenminister der Übergangsregierung am 3. Mai 1974 zufällig der letzte ausländische Gast des Bundeskanzlers Brandt gewesen.

Europa-Rede in Paris

Bei einer Veranstaltung des „Mouvement Européen“, der „Europäischen Bewegung“, spricht Willy Brandt am 19. November 1974 in Paris zum Thema „Frankreich, Deutschland und Europa“. Der SPD-Vorsitzende hofft auf neue Impulse für die Europäische Einigung, die vor ihrer bis dato schwierigsten Bewährungsprobe stehe.

Auf die durch den Ölpreisschock Ende 1973 ausgelöste Wirtschaftskrise haben die neun Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) mit nationalen Alleingängen reagiert. Um ein Scheitern der EG zu verhindern, fordert Brandt ein „Notprogramm zur Selbstbehauptung“. U. a. plädiert er für regelmäßige Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs, eine gemeinsame Energie- und Rohstoffpolitik sowie für die Unterstützung der sich in Portugal und Griechenland entwickelnden Demokratien.