Demokratischer Sozialist und Journalist in Schweden

Nach der Besetzung Norwegens durch Hitlers Wehrmacht flieht Willy Brandt 1940 in das im Zweiten Weltkrieg neutrale Schweden. Dort erhält er einen norwegischen Pass und wird Leiter eines Presse­büros in Stockholm. Zudem schreibt Brandt Bücher über den Krieg und die Zeit danach. Ein freies Norwegen und ein anderes, demokratisches Deutschland sind seine obersten Ziele. Ideen für eine friedliche Zukunft Europas und der Welt diskutiert Brandt in einem internationalen Kreis demokratischer Sozialisten. 1944 tritt er wieder der SPD bei. Nach Kriegsende kommt Willy Brandt im Herbst 1945 nach Deutschland, um als Journalist vom Nürnberger Prozess zu berichten.

Alle Texte des multimedialen Zeitstrahls 1940-1946

Neue Beziehung und neue Wohnung

Nach der Übersiedlung von Gertrud Meyer in die USA im Mai 1939 bleibt Willy Brandt in Oslo nicht lange allein. Er trifft die neun Jahre ältere Kulturwissenschaftlerin Carlota Thorkildsen wieder, die er seit 1935 vom Studium und von Treffen bei „Mot Dag“ kennt. Beide verlieben sich ineinander und leben bald zusammen in einer Wohnung in der Nähe der Osloer Universitätsbibliothek.

Übersiedlung nach England oder USA?

Im Auftrag von Jacob Walcher versucht Willy Brandt seit einigen Monaten von Oslo aus, die in alle Winde verstreuten Reste der SAPD zusammenzuhalten. Denn mit dem Kriegsausbruch im September 1939 hat die SAPD-Leitung in Paris ihre Arbeit einstellen müssen. Alle politischen Flüchtlinge in Frankreich sind seither interniert.

In der Erwartung, dass Brandt bald die norwegische Staatsbürgerschaft erhalten wird, hat Walcher seinem jungen Freund schon Ende 1939 geraten, Skandinavien schnell zu verlassen und nach London überzusiedeln. Doch die Einbürgerung lässt weiter auf sich warten. Anfang März 1940 schreibt Brandt an Walcher, dass er prinzipiell auch bereit wäre, in die USA zu reisen. Er fürchtet allerdings, dann nicht mehr nach Europa zurückkommen zu können.

Deutsche Besetzung Norwegens

Am Morgen des 9. April 1940 erfährt Willy Brandt, dass deutsche Schiffe über Nacht in den Oslofjord eingedrungen und Soldaten der Wehrmacht an Land gegangen sind. Zur gleichen Zeit wird auch Dänemark von deutschen Truppen besetzt.

Brandt und seine schwangere Lebensgefährtin Carlota Thorkildsen verlassen sofort ihre Wohnung und finden sich bei einem befreundeten norwegischen Ehepaar ein. Dort wird entschieden, dass Carlota in Oslo bleiben soll. Brandt trifft sich außerhalb der Stadt mit Martin Tranmæl und weiteren Führungsmitgliedern der norwegischen Arbeiterpartei. In einem Auto fahren sie nordwärts nach Hamar und weiter auf einem Lkw in östlicher Richtung über Elverum bis nach Nybergsund, wo sie am Morgen des 10. April 1940 ankommen.

Auf der Flucht durch Norwegen

In Nybergsund findet Willy Brandt Mitte April 1940 ein paar Tage Unterschlupf in einer Hütte. Dann schlägt er sich über Hamar nach Lillehammer durch. Von dort fährt er mit Kollegen von der Norwegischen Volkshilfe im Auto weiter nach Norden. Da auch die inzwischen gelandeten britischen Truppen den deutschen Vormarsch nicht stoppen können, setzt Brandt sich an die Westküste ab. Vorbei an der Kleinstadt Åndalsnes gelangt er bis an den Langfjord.

Die Verfolgungsmaschinerie der Deutschen kommt derweil nicht gleich in Gang. Akten über die in Norwegen lebenden Hitler-Gegner gehen mit dem Kriegsschiff „Blücher“ unter. Allerdings lässt die Gestapo Brandts druckfrisches erstes Buch „Stormaktenes krigsmål og det nye Europa“ („Die Kriegsziele der Großmächte und das neue Europa“) sofort einstampfen.

In Gefangenschaft der Wehrmacht

Auf seiner Flucht sitzt Willy Brandt Anfang Mai 1940 am Langfjord zwischen Meer und schneebedeckten Bergen fest. Die Deutschen haben das Gebiet abgeriegelt und die Briten haben in Südnorwegen kapituliert. Im Mittettal stößt Brandt zufällig auf norwegische Freiwillige. Darunter ist sein Freund Paul René Gauguin, ein Enkel des französischen Malers.

Um nicht der Gestapo in die Hände zu fallen, rät ihm Gauguin, dessen norwegische Uniform anzuziehen und sich mit den anderen Norwegern von der Wehrmacht gefangen nehmen zu lassen. So verbringt Brandt vier Wochen unerkannt als Kriegsgefangener in einem Lager in Dovre im Gudbrandsdal. Mitte Juni 1940 wird der 26-Jährige entlassen. In einem Vorort von Oslo kommt er bei Freunden unter und sieht seine Lebensgefährtin Carlota Thorkildsen wieder.

Flucht nach Schweden

Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsgefangenenlager hält sich Willy Brandt nur kurz in Oslo auf. Um unentdeckt zu bleiben, zieht er für anderthalb Wochen in ein abgeschiedenes Sommerhaus in Nærnes am Oslofjord. Hier fällt er die Entscheidung, in das neutrale Schweden zu fliehen.

Am Morgen des 30. Juni 1940 bricht Brandt auf. Mit der Fähre begibt er sich zunächst nach Oslo und holt dort Urkunden, Geld und Kleidung aus einem Versteck. Anschließend fährt er mit der Bahn Richtung schwedische Grenze. Die letzten Kilometer legt der 26-Jährige dann zu Fuß zurück. Nach einem Zwischenstopp auf dem Gut Bolstad weist ihm ein Landarbeiter am Abend den Schleichweg über die Grenze. Gegen ein Uhr nachts am 1. Juli 1940 stellt Brandt sich dem Posten einer schwedischen Militärstation bei Skillingmark.

In schwedischem Polizeigewahrsam

Nach seinem Grenzübertritt nach Schweden am 1. Juli 1940 wird Willy Brandt zur Polizei nach Charlottenberg gebracht, wo man den Staatenlosen interniert und verhört. Da er angibt, aus politischen Gründen aus Norwegen geflohen zu sein und in die USA emigrieren zu wollen, wird Brandt nicht abgeschoben. Nach einigen Tagen kommt er in das Flüchtlingslager Baggå in Mittelschweden.

Aufgrund der Fürsprache des schwedischen Reichstagsabgeordneten August Spångberg, den er seit seinem Spanienaufenthalt 1937 kennt, darf Brandt das Lager am 22. Juli 1940 verlassen. Bei der norwegischen Gesandtschaft in Stockholm will er endlich seine Einbürgerung erreichen.

Norwegischer Staatsbürger

Am 1. August 1940 verleiht die Gesandtschaft Norwegens in Stockholm auf telegrafische Anweisung der Londoner Exilregierung Willy Brandt die norwegische Staatsbürgerschaft. Er erhält den Staatsbürgerbrief und einen für zwei Jahre gültigen Pass, ausgestellt auf seinen Geburtsnamen „Herbert Ernst Karl Frahm“.

Die Einbürgerung hat er nicht zuletzt der Unterstützung seiner norwegischen Freunde Halvard Lange und Martin Tranmæl zu verdanken. Da das Exilbüro der Norwegischen Arbeiterpartei ihn als Hilfskraft anfordert, muss Brandt nicht mehr ins Flüchtlingslager zurück. Er kann frei in Stockholm leben und wohnt in der Pension Castor in der Kammakargatan 66. Ab 1. Oktober 1940 gewähren die schwedischen Behörden dem Neu-Norweger sechs Monate Aufenthaltsrecht.

Bemühungen um USA-Visum

Von Willy Brandts Ankunft in Schweden hat Gertrud Meyer in New York durch die in Stockholm lebenden SAPD-Mitglieder Irmgard und August Enderle erfahren. Ende September 1940 teilt sie dem Ehepaar mit, bei den US-Behörden Bürgschaften für die Enderles und Brandt eingereicht zu haben. Diese sind Voraussetzung für die Erteilung von Einreisevisa in die USA, um die sich Meyer unermüdlich bemüht.

Auf diese Weise verhilft sie einigen SAPD-Genossen, die nach der Besetzung weiter Teile Europas durch Hitler-Deutschland in größte Not geraten sind, zur rettenden Flucht. Dazu zählt nicht zuletzt Jacob Walcher, der aus Frankreich über Spanien in die USA entkommt. Trotz aller Anstrengungen Meyers erhalten Brandt, das Ehepaar Enderle und weitere Freunde aus Stockholm aber kein Visum.

Geburt von Tochter Ninja

Am 30. Oktober 1940 kommt Willy Brandts erstes Kind, seine Tochter Ninja, zur Welt. Den frisch gebackenen Vater in Stockholm trennen jedoch mehr als 400 Kilometer von seiner Familie, denn die Mutter Carlota Thorkildsen ist in Oslo geblieben. Das gemeinsame Baby sieht Brandt erst zwei Monate später bei einem heimlichen Besuch in der norwegischen Hauptstadt zum ersten Mal.

Registrierung als ausländischer Journalist

Ab Herbst 1940 arbeitet Willy Brandt in Stockholm offiziell als Korrespondent für die New Yorker Presseagentur „Overseas News Agency“ (ONA). Dadurch kann er sich am 11. Dezember 1940 bei den schwedischen Behörden als ausländischer Journalist registrieren lassen und einen Presseausweis bekommen.

Für seine Korrespondententätigkeit erhält Brandt von ONA zunächst 150 und ab 1941 sogar 250 schwedische Kronen im Monat. Die feste Stelle hilft ihm sehr bei der Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung, da er nicht auf staatliche Unterstützung angewiesen ist.

Gefahrvoller Besuch in Oslo

Finanziert von der Norwegischen Arbeiterpartei DNA, reist Willy Brandt kurz vor Weihnachten 1940 von Stockholm aus nach Norwegen, um sich selbst ein Bild von der Lage in dem von den Deutschen besetzten Land zu machen. Eine schwedische Militärstreife führt ihn und seinen Begleiter Inge Scheflo heimlich über die grüne Grenze. Dann fahren beide mit dem Zug nach Oslo, wo sie in einem Ein-Zimmer-Apartment unterkommen.

Brandt besucht seine Lebensgefährtin Carlota Thorkildsen und sieht zum ersten Mal seine Tochter Ninja. Außerdem begegnet er bei einem Geheimtreffen dem früheren Osloer Bürgermeister und späteren Ministerpräsidenten, Einar Gerhardsen, der die Widerstandsaktivitäten der norwegischen Gewerkschaften leitet. Am 3. Januar 1941 kehrt Brandt nach Schweden zurück.

Briefwechsel mit Walcher in den USA

Da ihre Mitglieder inzwischen über die halbe Welt verstreut sind, hat die SAPD keine feste Struktur mehr. Auch die ungefähr 20 Genossen, die wie Willy Brandt in Stockholm Zuflucht gefunden haben, sind nicht als offizielle SAPD-Gruppe organisiert. Dennoch und trotz unregelmäßiger Postverbindungen versucht Brandt während des Krieges, auch mit den Parteifreunden in Übersee in Kontakt zu bleiben.

Zu seinen Briefpartnern gehört insbesondere Jacob Walcher, der nach seiner Flucht aus Frankreich und Spanien Anfang 1941 in den USA angekommen ist. Mit seiner eigenen Übersiedlung nach Amerika hat Brandt es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so eilig. Am 9. Februar 1941 schreibt er an Walcher, er könne in Schweden für Norwegens Freiheitskampf „in steigendem Maße nützliche Arbeit leisten“.

Verhaftung durch die schwedische Polizei

Am 28. März 1941 begibt sich Willy Brandt zur Ausländerbehörde in Stockholm, um seine Aufenthaltserlaubnis verlängern zu lassen. Aber dort wird er von den Beamten stundenlang verhört und schließlich wegen des Verdachts der „Nachrichtentätigkeit für eine kriegführende Macht“ verhaftet. Brandts Abwesenheit über Weihnachten und Silvester 1940 ist der SÄPO, der schwedischen Sicherheitspolizei, nicht verborgen geblieben. Seit seiner Rückkehr aus Norwegen hat sie ihn beschattet und seine Briefe geöffnet.

Brandt gibt den Aufenthalt im Nachbarland zu, bleibt aber hinsichtlich seiner Kontakte zum norwegischen Widerstand wortkarg. Während er in Haft sitzt, durchsucht die Polizei seine Wohnung und beschlagnahmt fünf Aktenordner mit Korrespondenz. Ein Vernehmungsbeamter droht Brandt sogar mit der Abschiebung nach Deutschland. Doch ein norwegischer Diplomat und Martin Tranmæl setzen sich bei schwedischen Regierungsstellen erfolgreich für den 27-Jährigen ein.

Nach sechs Tagen kommt Brandt wieder frei, wird aber aufgefordert, Schweden möglichst rasch zu verlassen. In der Folge bleibt er im Visier der SÄPO, die seine Aktivitäten überwacht und heimlich seine Post kontrolliert. Auch wenn seine Aufenthaltserlaubnis in Schweden bis zum Kriegsende sechsmal verlängert wird, kann sich Brandt im Land nicht völlig frei bewegen. Für jede Reise außerhalb Stockholms, ob zu Vorträgen oder in den Urlaub, braucht er all die Jahre eine Genehmigung.

Erfolgreicher Journalist und Autor

Willy Brandt ist ein überaus fleißiger politischer Publizist. Als Journalist schreibt er für eine Arbeiterzeitung, übernimmt Aufträge des Stockholmer Exilbüros der Norwegischen Arbeiterpartei DNA und ist seit Herbst 1940 Korrespondent der New Yorker Presseagentur „Overseas News Agency“ (ONA).

Im Frühjahr 1941 wird sein Buch „Kriget i Norge“ („Krieg in Norwegen“) veröffentlicht, in dem Brandt die Kämpfe während der Besetzung Norwegens durch die Wehrmacht 1940 schildert. Das Werk bekommt glänzende Kritiken in Schweden und erscheint 1942 auch in deutscher Übersetzung in einem Züricher Verlag. Darüber hinaus verfasst Brandt in rascher Folge weitere Bücher, Broschüren und Artikel über den Freiheitskampf der Norweger, den Krieg in Europa und die Pläne für die Zeit danach.

Erste Ehe

Mitte Mai 1941 gelangen auch Carlota Thorkildsen, die norwegische Lebensgefährtin Willy Brandts, und ihre gemeinsame Tochter Ninja endlich nach Stockholm. Am 28. Mai heiraten Willy und Carlota im Standesamt des Stadtbezirks Enskede.

Der offizielle Familienname, auf den auch Brandts norwegischer Pass ausgestellt ist, lautet Frahm. Daran muss sich Carlota erst gewöhnen, denn diesen Namen hat sie mit ihrem Mann bisher nicht in Verbindung gebracht. Die junge Familie zieht in eine Wohnung im idyllischen Vorort Hammarbyhöjden, wo viele norwegische Flüchtlinge wohnen. Die Adresse lautet: Thunbergsgatan 23.

Neue Amerika-Pläne

Aufgrund seiner negativen Erfahrungen mit der schwedischen Polizei im Frühjahr 1941, die seine baldige Ausreise verlangt, möchte Willy Brandt mit Frau Carlota und Tochter Ninja möglichst bald nach Amerika übersiedeln. Seinen Freund Finn Moe, der Presseattaché an der Norwegischen Gesandtschaft in den USA ist, bittet er deshalb darum, Visa für sich und seine Familie zu besorgen.

Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941 erscheint dies noch dringlicher, da zu befürchten ist, dass die Wehrmacht auch das neutrale Schweden besetzen könnte. Das Vorhaben einer Übersiedlung in die USA werden Brandt und weitere SAPD-Freunde in Stockholm erst im Frühjahr 1942 endgültig aufgeben.

Zirkel norwegischer Sozialisten

In Stockholm gehört Willy Brandt einem „Studienzirkel norwegischer Sozialisten“ an, der ab Herbst 1941 über innen- und außenpolitische Pläne für die Nachkriegszeit diskutiert. Begründer des Kreises ist Martin Tranmæl. Brandt hat die Aufgabe, ein gemeinsames Positionspapier zu formulieren.

Ende 1941 spricht sich der 28-Jährige in einem Schreiben an Arne Ording, den Berater des norwegischen Außenministers im Londoner Exil, gegen einen Unterwerfungsfrieden aus. Deutschland sei zwar hauptverantwortlich für den Krieg, trage aber nicht die Alleinschuld. Zudem seien nicht alle Deutschen Nazis. Auch für ein demokratisches Deutschland, das zum Wiederaufbau Europas beitragen solle, müsse das Selbstbestimmungsrecht der Völker gelten, betont Brandt.

Familienleben in Schweden

Anfang 1942 zieht Willy Brandt mit seiner Frau Carlota und Tochter Ninja in eine Neubauwohnung um. Die Adresse in Hammarbyhöjden, seinerzeit ein Vorort Stockholms, lautet Finn Malmgrens Väg 23.

Für den Lebensunterhalt sorgt das Paar gemeinsam. Brandt arbeitet als Journalist, Carlota in der Pressestelle der norwegischen Gesandtschaft. Für damalige Verhältnisse geht es der Familie gut. Sie können sich jährlich einen Ski- und einen Sommerurlaub leisten, was den Neid anderer Emigranten weckt. Doch schon bald beginnt es in der jungen Ehe zu kriseln.

Friedensziele norwegischer Sozialisten

Nach sechsmonatigen Beratungen stellt der Stockholmer „Studienzirkel norwegischer Sozialisten“ unter der Leitung von Martin Tranmæl Ende Mai 1942 sein Papier „Diskusjonsgrunnlag om våre fredsmål“ („Diskussionsgrundlage unserer Friedensziele“) fertig. Das 19-seitige Dokument, das die Gruppe wenig später veröffentlicht und Anfang Juli 1942 mit schwedischen und ausländischen Sozialisten diskutiert, hat überwiegend Willy Brandt geschrieben.

Ausgehend von der Erwartung, dass das „Dritte Reich“ den Krieg verlieren wird, fordert das Papier die Ausrottung des Nazismus und des Militarismus in Deutschland, die Wiedergutmachung des von den Deutschen begangenen Unrechts sowie die Bestrafung der für Krieg und Verbrechen Verantwortlichen. Jedoch solle Deutschland nicht geteilt werden und seine Wirtschaft nicht zusammenbrechen, heißt es weiter. Die Alliierten dürften das deutsche Volk auch nicht daran hindern, eine sozialistische Revolution durchzuführen, sondern müssten die deutschen Demokraten unterstützen.

In der norwegischen Exilregierung in London, mit deren außenpolitischem Berater Arne Ording Willy Brandt Briefe austauscht, stoßen die Vorschläge allerdings auf heftige Kritik. Man stuft sie als viel zu mild gegenüber den Deutschen ein.

Widerstandszeitung „Håndslag“

Am 1. Juni 1942 erscheint in Stockholm die erste Ausgabe der Zeitung „Håndslag – Fakta og Orientering for Nordmenn“ („Handschlag – Fakten und Orientierung für Norweger“). Herausgeber ist der schwedische Schriftsteller Eyvind Johnson.

Die wichtigsten Mitarbeiter sind die Redakteure Willy Brandt und Torolf Elster. Sie informieren ihre Leser bis Juni 1945 alle zwei Wochen über die Lage im besetzten Norwegen und den Kriegsverlauf in Europa. „Håndslag“ erreicht nicht nur Exil-Norweger, sondern auch viele Landsleute in der Heimat, wo das Blatt im Untergrund verbreitet wird.

Mitte Juni 1942 veröffentlicht Brandt zudem ein weiteres Buch im Stockholmer Bonniers-Verlag mit dem Titel „Guerillakrieg“. Darin beschreibt er die Geschichte der Kleinkrieg-Führung seit dem frühen 19. Jahrhundert.

Eröffnung einer Presseagentur

Beauftragt und unterstützt von der Norwegischen Gesandtschaft, eröffnen Willy Brandt und der schwedische Journalist Olov Jansson am 31. Juli 1942 in Stockholm das „Svensk-Norsk Pressbyrå“ („Schwedisch-Norwegisches Pressebüro“). Jansson ist formal der Inhaber, Brandt aber der leitende Redakteur. Weiterer Mitarbeiter ist der Schwede Einar Stråhle.

Das Büro mit Sitz in der Vasagatan 37 liefert die neuesten Nachrichten über das besetzte Norwegen und wird von ca. 70 schwedischen Tageszeitungen unterschiedlichster politischer Ausrichtung, von einigen Botschaften sowie von ausländischen Journalisten und Agenturen abonniert. Bis Kriegsende publiziert Brandt unter dem Namen „Karl Frahm“ mehr als 5.000 Beiträge, von denen er viele auch für die Widerstandszeitung „Håndslag“ verwendet.

„Kleine Internationale“ in Stockholm

Im September 1942 trifft sich in Stockholm erstmals eine „Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten“, um über die europäische Nachkriegsordnung zu diskutieren. Sie folgt dem „Studienzirkel norwegischer Sozialisten“ nach. Willy Brandt nimmt von Anfang an eine Schlüsselrolle ein. Im Herbst 1942 wird er Sekretär eines Komitees, das einen Entwurf für die Friedensziele der Gruppe erarbeiten soll.

An den Zusammenkünften der so genannten „Kleinen Internationale“ nehmen bis 1945 regelmäßig ca. 60 demokratische Sozialisten aus 14 Ländern teil. Zum inneren Kreis gehören u. a. Martin Tranmæl, der Österreicher Bruno Kreisky, die Schweden Torsten Nilsson sowie Alva und Gunnar Myrdal, die Ungarn Vilmos Böhm und Stefan Szende, der Pole Maurycy Karniol und die Deutschen Ernst Paul und Fritz Tarnow.

Erste Berichte über den Holocaust

Für die New Yorker Presseagentur „Overseas News Agency“ (ONA) schreibt Willy Brandt auch über die Judenverfolgung in den von den Deutschen besetzten Gebieten. Im Januar 1943 berichtet er erstmals, dass das NS-Regime Juden vergast. Diese ungeheuerliche Nachricht hat der ONA-Korrespondent von dem Polen Maurycy Karniol erhalten, der in der „Kleinen Internationale“ in Stockholm mitarbeitet.

Obwohl die amerikanische Presseagentur Brandts Meldung verbreitet, drucken nur wenige Zeitungen in den USA sie ab. Der damalige ONA-Chef Hyman Wishengrad meint später, der Artikel sei der erste Hinweis auf die Existenz der Vernichtungslager gewesen. Das wahre Ausmaß des Massenmords an den europäischen Juden, den die Deutschen seit 1942 mit unvorstellbarer Grausamkeit betreiben, kennt Brandt aber noch nicht.

Weitere Bücher über Norwegen

Im Frühjahr 1943 erscheint im Stockholmer Bonniers-Verlag ein neues Buch von Willy Brandt mit dem Titel „Norges tredje krigsår“ („Norwegens drittes Kriegsjahr“). Es schildert die Unterdrückung des norwegischen Volkes durch die deutschen Besatzer und die Aktivitäten des Widerstands gegen sie. Das Manuskript hat Brandt auf Norwegisch verfasst. Für die Druckfassung übersetzt Olov Jansson den Text ins Schwedische.

Die militärischen Niederlagen der Deutschen in Nordafrika und in Stalingrad 1942/43 beflügeln Brandt. Neben seiner täglichen Arbeit als Journalist veröffentlicht er zahlreiche weitere Broschüren und Bücher, die dem Freiheitskampf der Norweger gewidmet sind. So kommt 1943 auch der Band „Norge: ockuperat och fritt“ („Norwegen – okkupiert und frei)“ heraus.

„Kleine Internatio­nale“: Friedensziele

Am 1. Mai 1943 kommen in Stockholm über 500 schwedische Sozialdemokraten und 100 demokratische Sozialisten aus 13 Ländern zu einer Kundgebung zusammen. Willy Brandt hält die Festrede und stellt als Sekretär der „Internationalen Gruppe demokratischer Sozialisten“ deren Friedensziele vor. Die im März 1943 verabschiedete Resolution hat hauptsächlich er formuliert.

Die so genannte „Kleine Internationale“ bekennt sich darin zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, das auch für ein demokratisches Deutschland gelten soll. Sie fordert ferner die Demokratisierung der Staaten und Gesellschaften, die Einigung Europas, das Ende der Kolonialherrschaft und die Schaffung der Vereinten Nationen. Diese Vorschläge gehen nicht zuletzt auf die anglo-amerikanische Atlantikcharta von 1941 zurück.

Gegen kommunistische Verleumdungen

Willy Brandts Buch „Norges tredje krigsår“ schlägt hohe Wellen. Auf die darin zu findende Kritik an der norwegischen KP reagiert die kommunistische Zeitung „Ny dag“ in Schweden mit üblen persönlichen Angriffen. Sie beschuldigt Brandt, Deutscher zu sein und Norweger an die Gestapo zu verraten.

In einem „Offenen Brief an die Kommunisten“, der im August 1943 in der Zeitung „Trots allt“ erscheint, weist der 29-Jährige die Verleumdungen entschieden zurück. Er habe nie verschwiegen und schäme sich nicht, gebürtiger Deutscher zu sein. Brandt betont: „Ich fühle mich Norwegen mit tausend Banden verbunden, aber ich habe niemals Deutschland – das andere Deutschland – aufgegeben. (…) Ich arbeite dafür, zwei Vaterländer wiederzugewinnen – ein freies Norwegen und ein demokratisches Deutschland.“

Geheimdienst-Agent?

Im September 1943 verfasst Willy Brandt eine Ausarbeitung über die antifaschistischen Kräfte in Deutschland. Darin schätzt er die Chancen des deutschen Widerstands gegen das Hitler-Regime sehr nüchtern ein: Die Opposition werde erst dann ernsthaft hervortreten, wenn die militärische Niederlage des „Dritten Reichs“ unzweifelhaft feststehe. Diese Analyse gelangt über eine Londoner Außenstelle zur Zentrale des amerikanischen Geheimdienstes Office of Strategic Studies (OSS) in Washington.

Aufgrund dieses und anderer Berichte wird später fälschlicherweise behauptet, Brandt sei während des Krieges als Agent oder Spion fremder Mächte tätig gewesen. Für den Journalisten und NS-Gegner ist es seinerzeit jedoch selbstverständlich, Kontakte zu Vertretern der Anti-Hitler-Koalition zu unterhalten. Die Informationen und Nachrichten, die Brandt dabei gewinnt, nutzt er für seine Artikel und Bücher. Umgekehrt gibt er seine eigenen Kenntnisse über die Lage in Norwegen, Schweden und Deutschland an amerikanische, britische und sowjetische Repräsentanten weiter.

Dass seine Gesprächspartner in Stockholm auch für die Geheimdienste ihrer jeweiligen Länder arbeiten beziehungsweise Brandts Mitteilungen an diese weiterleiten, ist ihm vermutlich bewusst. Neben dem Austausch von Informationen geht es Willy Brandt bei seinen Kontakten auch darum, die alliierten Deutschland-Planungen für die Nachkriegszeit zu beeinflussen.

Verbindung zum deutschen Widerstand

Im Winter 1943/44 wird Willy Brandt von einem befreundeten Geschäftsmann in Stockholm dem deutschen Oberstleutnant Theodor Steltzer vorgestellt. Steltzer organisiert in Norwegen das Transportwesen der Wehrmacht und ist ein konservativer Gegner des NS-Regimes. Er deutet Brandt an, dass es eine geheime Gruppe aus Militärs und Politikern in Deutschland gibt, die Hitler von der Macht entfernen wollen.

Zu diesem später so genannten „Kreisauer Kreis“ gehört auch der Sozialdemokrat Julius Leber, mit dem Steltzer nach eigenem Bekunden gut bekannt ist. Brandt freut sich sehr, etwas über seinen einstigen Förderer in Lübeck zu erfahren, und lässt ihm Grüße ausrichten. In den nächsten Monaten kommt es zu weiteren Treffen mit Steltzer, der in Stockholm auch mit dem Gewerkschafter Fritz Tarnow spricht.

Liebesbeziehung mit Rut Bergaust

Zu Beginn des Jahres 1944 ist Willy Brandt infolge einer Gelbsucht arg geschwächt. Seinen 30. Geburtstag am 18. Dezember 1943 hat er mit hohem Fieber im Bett verbringen müssen. Noch Wochen danach kann er kaum arbeiten und ist viel zu Hause. In dieser Zeit verlieben er und Rut Bergaust sich ineinander. Die 23-jährige Norwegerin hilft im Haushalt von Willy und seiner Frau Carlota und versorgt tagsüber deren kleine Tochter Ninja.

Die neue Liebesbeziehung, die beide ab Sommer 1944 nicht mehr verheimlichen, führt zu schweren Konflikten. Weder Carlota noch Ruts Mann, der bald todkrank wird, wollen ihre Ehen aufgeben. Monatelang geht es hin und her. Willys Trennung von Carlota ist erst besiegelt, als sie zum Jahreswechsel 1944/45 mit Ninja die gemeinsame Wohnung in Hammarbyhöjden verlässt.

Öffentliche Auftritte in Schweden

Je mehr sich die militärische Niederlage Hitler-Deutschlands abzeichnet, desto freier können sich Flüchtlinge im neutralen Schweden politisch betätigen. Seit Mai 1943 ist es Willy Brandt möglich, auch bei öffentlichen Versammlungen aufzutreten. Im Februar 1944 hält er zum Beispiel einen Vortrag bei „Samfundet Nordens Frihet“ („Vereinigung für die Freiheit der Nordischen Länder”), einem liberal-demokratischen Klub, der antinazistisch und antikommunistisch ausgerichtet ist. Sein Thema lautet „Zusammenarbeit in Krieg und Frieden“.

Engste Kontakte unterhält der 30-Jährige zu Schwedens Sozialdemokraten. Bei der 1.-Mai-Kundgebung in Stockholm macht die schwedische Wochenschau zufällig die ersten Filmaufnahmen von Willy Brandt, der mit Frau und Tochter am Demonstrationszug teilnimmt.

„Efter Segern“ („Nach dem Sieg“)

Am 3. Mai 1944 erscheint mit „Efter Segern“ („Nach dem Sieg“) ein weiteres Buch Willy Brandts im Stockholmer Bonniers-Verlag. Das Werk in schwedischer Sprache hat eine Auflage von 2.200 Exemplaren. Das norwegische Manuskript hat sein Kollege im Schwedisch-Norwegischen Pressebüro, Olov Jansson, übersetzt.

Wie seine Freunde in der „Kleinen Internationale“ geht Brandt davon aus, dass die Anti-Hitler-Koalition siegen und ihre Zusammenarbeit auch nach dem Krieg fortsetzen werde. Forderungen nach einer harten Bestrafung Deutschlands durch die Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion widerspricht der 30-Jährige jedoch energisch. Mit Verweis auf das „andere Deutschland“ der deutschen Demokraten betont Brandt, dass nicht alle Deutschen Nazis und Verbrecher seien.

Kontakt zu Hitler-Attentätern

Am 24. Juni 1944 bekommt Willy Brandt überraschend Besuch von einem schwedischen Bekannten, der noch einen Gast mitbringt. Es ist der deutsche Legationsrat Adam von Trott zu Solz, der zur Widerstandsgruppe des „Kreisauer Kreises“ gehört. Der Diplomat richtet Brandt Grüße von Julius Leber aus und bittet um Vertrauen.

Ohne weitere Namen der Verschwörer zu nennen, gibt Trott zu erkennen, dass die Beseitigung Adolf Hitlers für die nächsten Wochen geplant sei. Die Frage, ob er sich einer neuen Regierung zur Verfügung stellen und für sie eine Aufgabe in Skandinavien übernehmen würde, beantwortet Brandt ohne Zögern mit Ja. Zwei Tage später trifft er noch einmal zu einem Gespräch mit Trott zusammen. Das Attentat auf Hitler, das am 20. Juli 1944 stattfindet, scheitert jedoch.

Zur Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten

Im Juli 1944 veröffentlichen 18 frühere Funktionäre der SAPD, die im Exil in Schweden leben, die SchriftZur Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten“. Die Hauptautoren sind Willy Brandt, Stefan Szende sowie Irmgard und August Enderle. Die Broschüre erörtert die Voraussetzungen einer demokratischen Revolution in Deutschland und die außenpolitischen Rahmenbedingungen für eine neue deutsche Demokratie.

Für die deutschen Sozialisten sind die wichtigsten Friedensziele ein demokratisches und ungeteiltes Deutschland, eine europäische Friedensordnung und ein neuer Völkerbund. Mit Blick auf die deutsche Ostgrenze kann Brandt sich die Abtretung Ostpreußens und Danzigs an Polen vorstellen. Eine Umsiedlung von bis zu neun Millionen Deutschen nach Westen lehnt er aber nachdrücklich ab.

Wiederaufnahme in die SPD

Am 9. Oktober 1944 beantragen 14 ehemalige SAPD-Mitglieder, unter ihnen Willy Brandt, gemeinsam die Aufnahme in die Stockholmer Gruppe der Exil-SPD (Sopade). In einer Erklärung begründen sie dies damit, die frühere Zersplitterung der Arbeiterbewegung in Deutschland überwinden und die Schaffung einer sozialistisch-demokratischen Einheitspartei einleiten zu wollen. Wie aus einem seiner Briefe an Jacob Walcher hervorgeht, ist Brandt allerdings skeptisch, ob die Kommunisten sich an der Einheitspartei beteiligen werden.

Am 18. Oktober 1944 nimmt die SPD-Ortsgruppe Stockholm die ehemaligen SAPD-Mitglieder auf. Kurt Heinig, der den Londoner Parteivorstand der Sopade in Schweden vertritt und gegen Willy Brandt eine tiefe Abneigung hegt, versucht erfolglos, die Aufnahme zu verhindern.

Gründung der Zeitschrift „Sozialistische Tribüne“

Im Januar 1945 erscheint in Stockholm erstmals die Monatszeitschrift „Sozialistische Tribüne“, die von der Landesgruppe der Exil-SPD in Schweden herausgegeben wird. Gemeinsam mit Fritz Bauer, dem späteren Generalstaatsanwalt in Hessen, hat Willy Brandt Ende 1944 das Konzept für das Blatt entworfen.

Die „Sozialistische Tribüne“ entwickelt sich rasch zum führenden Presseorgan des deutschsprachigen Exils in Schweden. Zunächst leitet Bauer die Redaktion. Im Sommer 1945 wird Brandt sein Nachfolger.

Zur künftigen Außen­politik Deutschlands

Während die großen Drei, Franklin D. Roosevelt, Winston Churchill und Josef Stalin, in Jalta über die europäische Nachkriegsordnung verhandeln, hält Willy Brandt am 9. Februar 1945 vor Mitgliedern der SPD-Ortsgruppe Stockholm einen Vortrag über „Deutschlands außenpolitische Stellung nach dem Kriege“.

Der 31-Jährige betont: „Vorbehaltloses Anerkennen der Verbrechen, die von Deutschen und im Namen Deutschlands an andern Völkern verübt worden sind, ist die erste Vorbedingung für eine Gesundung des deutschen Volkes.“ Ein demokratisches Deutschland müsse den vom Krieg verwüsteten Ländern Wiedergutmachung leisten, ganz besonders auch den europäischen Juden, so Brandt weiter. Es könne nicht zwischen Ost und West wählen, sondern müsse mit allen Nationen zusammenarbeiten.

Befreiung und Kriegsende in Europa

Am Abend des 1. Mai 1945 trifft sich in Stockholm die „Internationale Gruppe demokratischer Sozialisten“ („Kleine Internationale“). Während seiner Rede zum Abschluss der Maifeier wird Willy Brandt ein Zettel gereicht, den er sofort verliest: „Adolf Hitler ist tot.“ Am 8. Mai 1945 kapituliert Deutschland bedingungslos. Damit ist der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende und die von den Deutschen besetzten Länder sind wieder frei.

Wenige Tage später fährt Brandt mit dem Zug nach Oslo, um für die schwedische Presse über das befreite Norwegen zu berichten. Er wohnt in der „Pensjon Themis“ in der Pilestredet 15 B und hält sich drei Wochen in der norwegischen Hauptstadt auf, die sich im Freudentaumel befindet. In den folgenden Monaten pendelt der Journalist mehrmals zwischen Stockholm und Oslo.

Potsdamer Konferenz der Großen Drei

Auf Schloss Cecilienhof in Potsdam beraten die Regierungschefs der USA, der Sowjetunion und Großbritanniens, Harry S. Truman, Josef Stalin und Winston Churchill (bzw. Clement Attlee), vom 17. Juli bis 2. August 1945 über die Zukunft des besiegten Deutschland. Im später so genannten „Potsdamer Abkommen“ formulieren sie vier Hauptziele für die gemeinsame alliierte Besatzungspolitik: Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung.

Die großen Drei beschließen zudem, den Franzosen eine Besatzungszone im Südwesten Deutschlands und einen Sektor in der Reichshauptstadt zu überlassen. Als vierte Siegermacht erhält Frankreich damit Sitz und Stimme im Alliierten Kontrollrat und in der Alliierten Kommandantur in Berlin.

Kritik an Potsdamer Grenzregelung

In einem Artikel für die in Stockholm erscheinende Zeitschrift „Sozialistische Tribüne“ nimmt Willy Brandt im September 1945 Stellung zu den Vereinbarungen der Potsdamer Konferenz. Dort haben sich die drei Siegermächte USA, Großbritannien und Sowjetunion einen Monat zuvor für den Erhalt der politischen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands auf der Basis der Grenzen von 1937 ausgesprochen. Doch zugleich sind die Gebiete östlich von Oder und Neiße bis zum Abschluss eines Friedensvertrages unter polnische Verwaltung gestellt worden.

Willy Brandt wertet das Potsdamer Abkommen grundsätzlich als Fortschritt. Die Zusammenarbeit der Siegermächte und die bessere Koordinierung ihrer Besatzungspolitik sieht er als Voraussetzung für den demokratischen Wiederaufbau Deutschlands an. Die Regelung für die deutsche Ostgrenze hält der 31-Jährige hingegen für „unvernünftig“. Möglicherweise könne man daran aber nichts mehr ändern. Deutsche Demokraten sollten gleichwohl nicht „Ja und Amen“ dazu sagen, sondern auf Modifikationen in einem Friedensvertrag hinarbeiten, erklärt Brandt.

Die Vertreibung der im Osten lebenden Deutschen, die sich seit Kriegsende vollzieht, lehnt er ganz entschieden ab. Laut Beschluss der Großen Drei in Potsdam soll der „Transfer“ der deutschen Bevölkerung aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn nach Westen „in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen“. Tatsächlich werden ca. 12 Millionen Deutsche gewaltsam vertrieben oder zur Flucht aus ihrer Heimat gezwungen.

Wiederkehr nach Deutschland

Am 8. November 1945 besteigt Willy Brandt in Oslo eine britische Militärmaschine. Er ist auf dem Weg zum alliierten Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des „Dritten Reiches“ in Nürnberg. Nach Zwischenlandungen in Stockholm und Kopenhagen kommt der 31-Jährige tags darauf in Bremen an.

Zum ersten Mal seit 1936 betritt er wieder deutschen Boden. Damit Brandt seine Mutter in Lübeck besuchen kann, überlässt ihm der Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen seinen Dienstwagen samt Chauffeur. In der Lübecker Innenstadt, die in Trümmern liegt, verliert der Heimkehrer die Orientierung. Zur Adresse Ringstedtenweg 21, wo Martha Kuhlmann und ihre Familie seit 1937 wohnen, muss Brandt sich durchfragen. Seine Mutter freut sich sehr, als sie am Abend des 11. November 1945 ihren ältesten Sohn wiedersieht.

Beobachter beim Nürnberger Prozess

Am 20. November 1945 beginnt in Nürnberg vor dem Internationalen Militärgerichtshof der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher des „Dritten Reichs“, darunter Hermann Göring und Albert Speer. Willy Brandt ist einer von 250 zugelassenen Pressekorrespondenten und berichtet für skandinavische Zeitungen über das von den Alliierten durchgeführte Verfahren. Vorschriftsgemäß trägt er eine norwegische Uniform mit dem Streifen „War Correspondent“ am linken Ärmel.

Obwohl Brandt sich auf Seiten von Anklägern und Richtern auch deutsche Antinazis hätte vorstellen können, begrüßt er den Prozess als einen entscheidenden Fortschritt in der Entwicklung des internationalen Rechts. Die Verhandlungen enthüllen das kaum zu ertragende Ausmaß der deutschen Verbrechen, vor allem den Völkermord an den Juden Europas.

Eindrücke vom besetzten Deutschland

Eine zweiwöchige Pause des Nürnberger Prozesses am Jahresende 1945 hat Willy Brandt genutzt, um Weihnachten bei seiner Mutter in Lübeck zu verbringen. Sylvester und Neujahr hat der 32-Jährige dann mit seiner Freundin Rut Bergaust in Stockholm gefeiert.

Anfang Januar 1946 kehrt er für gut acht Wochen nach Deutschland zurück. In dieser Zeit interessiert sich Brandt nicht nur für die Verhandlungen vor Gericht, sondern auch für die aktuellen Lebensumstände im Land. Zu diesem Zweck bereist der Journalist von Nürnberg aus Städte und Regionen in der amerikanischen Besatzungszone. Die Eindrücke, die er dabei gewinnt, fließen in Presseartikel ein und bilden die Grundlage für sein Buch „Verbrecher und andere Deutsche“.

Erste Begegnung mit Kurt Schumacher

Am 26. Februar 1946 findet in Offenbach eine Konferenz von SPD-Delegierten aus der amerikanischen und der französischen Besatzungszone statt. Willy Brandt wohnt der Versammlung als Berichterstatter für die norwegische Arbeiterpresse bei. Am Rande der Veranstaltung stellt er sich Kurt Schumacher vor, dem Anführer der SPD in den West-Zonen. Es ist die erste Begegnung der beiden.

Bereits im Herbst 1945 und Anfang 1946 hat Brandt in Briefen an Schumacher seine Absicht mitgeteilt, nach Deutschland zurückkehren und seinen Beitrag zum Neuaufbau der SPD leisten zu wollen. Doch bei dem Gespräch in Offenbach gewinnt Brandt nicht den Eindruck, dass die Parteiführung an seiner baldigen Mitarbeit interessiert ist. Am 5. März 1946 kehrt er nach Oslo zurück.

Gegen die KPD-SPD-Zwangsvereinigung

Auf einem Parteitag im Ostsektor Berlins am 21./22. April 1946 vereinigen sich KPD und SPD in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Sie ist das Ergebnis massiven sowjetischen Drucks. In Übereinstimmung mit der von Kurt Schumacher angeführten Westzonen-SPD lehnt Willy Brandt die neue Partei entschieden ab.

In einem Brief an seinen alten SAPD-Weggefährten Jacob Walcher prangert er am 30. April 1946 von Oslo aus die „undemokratischen Mittel“ und „gewalttätigen Methoden“ bei der Gründung der SED an. Durch die Zwangsvereinigung sieht der 32-Jährige auch die Tendenz zur Teilung Deutschlands gestärkt. Die Wege der einstigen Freunde trennen sich nun endgültig. Walcher wird Mitglied der SED, während Brandt sich klar zur SPD bekennt.

Beim SPD-Parteitag in Hannover

Vom 9. bis 11. Mai 1946 nimmt Willy Brandt als Delegierter der Landesgruppe Schweden und zugleich als Journalist im Auftrag mehrerer skandinavischer Zeitungen am ersten Nachkriegsparteitag der SPD in Hannover teil. Für die Sozialdemokraten im schwedischen Exil darf aber nur Kurt Heinig sprechen. Dessen fortgesetzte Bemühungen, persönliche Verleumdungen über Brandt in Umlauf zu bringen und ihn beim Parteivorstand anzuschwärzen, zeigen Wirkung. Der 32-Jährige muss feststellen, dass ihm mehrere Führungsmitglieder der SPD mit Misstrauen begegnen.

Was eine Beschäftigung in Deutschland anbetrifft, erhält Brandt sehr unterschiedliche Signale. Vorstandsmitglied Fritz Heine möchte ihn noch als Verbindungsmann in Skandinavien belassen. Der frisch gewählte Parteivorsitzende Kurt Schumacher rät dagegen zur baldigen Heimkehr und möchte ihn beim Aufbau der Parteipresse im Ruhrgebiet einsetzen. Schließlich folgt Brandt einer dritten Empfehlung und bewirbt sich für die Stelle als leitender Redakteur bei der Deutschen Allgemeinen Nachrichtenagentur (DANA) in Bad Nauheim. Vor seiner Rückreise nach Norwegen fährt er Mitte Mai 1946 noch einmal für eine Woche als Pressekorrespondent zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und macht anschließend auch in Lübeck Station.

Buch „Verbrecher und andere Deutsche“

Im Juni 1946 erscheint in Oslo Willy Brandts Buch „Forbrytere og andre tyskere“ („Verbrecher und andere Deutsche“). Der Bericht aus Deutschland fußt auf Eindrücken, die er in den Monaten zuvor beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozess und bei Reisen durch das Land gewonnen hat.

Erneut tritt Brandt der Kollektivschuldthese entgegen, wonach alle Deutschen Nazis und Verbrecher seien. Er hebt aber hervor, dass jeder Deutsche sich der politischen Verantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes stellen müsse. Ausführlich schildert Brandt auch die schwierigen Lebensumstände vieler Menschen, besonders in den vom Krieg schwer zerstörten Städten.

Später werden Gegner ihm zu Unrecht vorwerfen, mit dem Buchtitel habe er Kriminelle und Deutsche gleichgesetzt. In deutscher Sprache erscheint das Werk erst 2007.

Unklare berufliche Zukunft

Im Sommer 1946 ist Willy Brandt noch immer unentschieden, was und wo er zukünftig arbeiten will. In Deutschland hat er scheinbar mehrere Optionen. Neben seiner Bewerbung bei der Nachrichtenagentur DANA in Bad Nauheim ist der 32-Jährige auch für den Posten als Chefredakteur des Deutschen Pressedienstes (DPD) in Hamburg im Gespräch.

Mitte August 1946 reist Brandt wieder nach Deutschland, um sich bei den amerikanischen und britischen Besatzungsbehörden persönlich vorzustellen, die für die Nachrichtenagenturen jeweils verantwortlich sind. Beide Stellen gefallen ihm aber nicht besonders.

Bürgermeister in Lübeck?

Nach einem erneuten Abstecher zum Nürnberger Kriegsverbrecherprozess kommt Willy Brandt Anfang September 1946 abermals nach Lübeck. Gemeinsam mit Annedore Leber, der Witwe von Julius Leber, unterstützt er die SPD mit einem Auftritt im Kommunalwahlkampf.

Die Lübecker Sozialdemokraten wollen Brandt quasi als Nachfolger Lebers für die politische Arbeit in der Hansestadt gewinnen. Auch von Theodor Steltzer, den er als konservativen Hitler-Gegner im Stockholmer Exil kennengelernt hat und der nun als CDU-Mitglied Oberpräsident der Provinz Schleswig-Holstein ist, wird ihm die Kandidatur für das Bürgermeisteramt in Lübeck nahegelegt. Brandt reagiert skeptisch, hält seine Entscheidung jedoch offen.

Stellenangebot für Paris

Im Oktober 1946 ergibt sich für Willy Brandt eine ganz neue berufliche Perspektive. Sein langjähriger Freund, Norwegens Außenminister Halvard Lange, bietet ihm den Posten als Presseattaché bei der Norwegischen Botschaft in Paris an.

Brandt ist hin- und hergerissen, wie ein Brief an Stefan Szende zeigt. Denn eigentlich hat er sich inzwischen dazu durchgerungen, nach Lübeck zu gehen. Einerseits reizt den 32-Jährigen die Aufgabe in der französischen Hauptstadt, weil sie ein guter Ausgangspunkt für eine spätere Karriere in internationalen Organisationen sein könnte. Andererseits würde er damit wohl definitiv darauf verzichten, an der deutschen Politik mitzuwirken.

Brandt ist schon geneigt, Paris zu akzeptieren, als Lange ihn überraschend fragt, ob er Presseattaché bei der Norwegischen Militärmission in Berlin werden will.

Entscheidung für Berlin

Willy Brandt hat das Angebot von Außenminister Halvard Lange angenommen und geht als Presseattaché an die Norwegische Militärmission nach Berlin. Er muss sich für ein Jahr verpflichten und kann dann entscheiden, ob er in Deutschland bleiben oder einen internationalen Weg einschlagen will.

In einem Rundschreiben an politische und persönliche Freunde wirbt der Deutsch-Norweger am 1. November 1946 um Verständnis für seinen Entschluss. Ausschlaggebend ist für ihn, wo er als „europäischer, demokratischer Sozialist“ „der europäischen Wiedergeburt und damit auch der deutschen Demokratie“ am besten dienen könne. Den Lübeckern, die mit seiner Rückkehr gerechnet haben, versichert Brandt, dass er die alte Hansestadt „nie vergessen, geschweige denn im Stich lassen werde“.

Geduldsprobe in Kopenhagen

Weihnachten 1946 verbringen Willy Brandt und seine Freundin Rut Bergaust gemeinsam in Kopenhagen. Dort wartet er auf die offiziellen Papiere, die ihm die Einreise nach Deutschland und den Dienstantritt an der Norwegischen Militärmission in Berlin ermöglichen. Doch die Zustellung verzögert sich.

Außerdem muss Rut nach Norwegen abreisen, als sie erfährt, dass ihr Ehemann Ole Bergaust am 29. Dezember 1946 an Tuberkulose verstorben ist. Einsam und erkältet sitzt Willy in einem Hotel fest und wird von Tag zu Tag nervöser, bis die erforderlichen Reisedokumente nach mehr als zwei Wochen endlich eintreffen. Mitte Januar 1947 kann Brandt mit dem Zug über Hannover nach Berlin fahren.