„Mehr Demokratie wagen“ – Innen- und Gesellschaftspolitik 1969–1974

Reformen prägen die Amtszeit des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland: Die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt erweitert Freiheitsrechte, ermöglicht mehr demokratische Mitwirkung und baut den Sozialstaat aus. Die Opposition bekämpft die Politik der Regierung Brandt/Scheel mit aller Härte. CDU und CSU scheitern jedoch damit, den Bundeskanzler zu stürzen. Mit dem klaren Wahlsieg von SPD und FDP erreicht die „Ära Brandt“ 1972 ihren Zenit. Aber durch internationale Krisen und wirtschaftliche Umbrüche stößt die Reformpolitik bald an ihre Grenzen und in der Folge steht Brandt stark in der Kritik. Anlass für den Kanzlerrücktritt 1974 ist indes die Spionageaffäre Guillaume.

Machtwechsel in Bonn

Die Bundestagswahl am 28. September 1969 verschafft SPD und FDP eine knappe Mehrheit im Parlament. Noch in der Wahlnacht spricht sich Willy Brandt gegen die Fortsetzung der Großen Koalition mit der CDU/CSU aus. Stattdessen bietet er dem FDP-Vorsitzenden Walter Scheel eine Koalition an, mit dem ihn ein enges Vertrauensverhältnis verbindet.

Der Machtwechsel in Bonn ist bereits bei der Bundespräsidentenwahl im März 1969 eingeleitet worden, als die Liberalen mit ihren Stimmen dem Sozialdemokraten Gustav Heinemann zur Mehrheit verholfen haben. Nun verständigen sich SPD und FDP rasch auf die Bildung einer neuen Bundesregierung, an der die Unionsparteien erstmals seit 1949 nicht beteiligt sind.

Aufbruch zu neuen Ufern

Am 21. Oktober 1969 wählt der Bundestag Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Walter Scheel wird Außenminister und Vizekanzler. Dessen Parteifreund Hans-Dietrich Genscher übernimmt das Innenministerium. Weitere Schlüsselpositionen haben seitens der SPD Finanzminister Alex Möller, Wirtschaftsminister Karl Schiller, Verteidigungsminister Helmut Schmidt und Horst Ehmke inne, der als Chef des Bundeskanzleramts die Details der Regierungspolitik koordiniert. Mit Käte Strobel (SPD), die das Ressort Jugend, Familie und Gesundheit leitet, gehört nach wie vor nur eine Ministerin dem Bundeskabinett an. Im Kanzleramt wird die SPD-Politikerin Katharina Focke Parlamentarische Staatssekretärin. Das Büro des Bundeskanzlers wird ab 1970 von Reinhard Wilke geleitet, weitere Referenten sind Wolf-Dietrich Schilling und Peter Reuschenbach.

In der ersten Regierungserklärung eine Woche nach seiner Wahl zum Kanzler erläutert Willy Brandt im Bundestag die Ziele der sozial-liberalen Koalition. Auf dem Feld der Innen- und Gesellschaftspolitik kündigt er an, den von der Großen Koalition begonnenen Reformkurs fortzusetzen und zu verstärken. Sein Leitmotiv lautet: Die Bürgerinnen und Bürger sollen mündig und selbstbewusst an der Willensbildung in Staat und Gesellschaft teilnehmen können. Zwei Sätze in Brandts Rede verdeutlichen dies besonders: „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ und „Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert.“

Umfangreiche Reformen im Innern

Das innenpolitische Reformprogramm, das die Koalition von SPD und FDP allein bis 1972 umsetzt, ist ehrgeizig und umfangreich. Es umfasst u. a.:

  • Mehr demokratische Mitwirkung: Das aktive und passive Wahlalter wird auf 18 Jahre gesenkt. Betriebs- und Personalräte erhalten mehr Mitbestimmungsrechte.
  • Bildungsreformen: Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAFöG) verbessert die Bildungs- und Berufschancen für Kinder aus einkommensschwachen Familien deutlich und öffnet breiten Schichten den Zugang zu Abitur und Studium. Der Hochschulausbau wird forciert.
  • Erweiterung von Freiheitsrechten: Das Demonstrationsstrafrecht wird liberalisiert. Ein neues Ehe- und Familienrecht unterstützt die Emanzipation und die Gleichstellung der Frauen. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wird gestärkt, insbesondere durch die weitere Entkriminalisierung von Homosexualität.
  • Erhöhung und Ausweitung von Sozialleistungen: Durch den Ausbau der Sozialversicherung erhalten viele Bürgerinnen und Bürger mehr Schutz bei Krankheit und höhere Renten. Die Förderung der Vermögensbildung von Arbeitnehmern wird verbessert. Familien bekommen mehr Kindergeld.
  • Bekämpfung des Terrorismus: Als Reaktion auf den nationalen und internationalen Linksterrorismus wird der Sicherheitsapparat enorm ausgebaut und die Gefahrenabwehr auf Bundesebene zentral organisiert.

Umstrittene Finanzpolitik

Zur Finanzierung ihrer Reformpolitik geht die Regierung Brandt/Scheel optimistisch von dauerhaft hohen Wachstumsraten der Wirtschaft aus. Doch trotz guter Konjunktur und Vollbeschäftigung lassen sich die erheblichen Mehrausgaben des Bundes von Anfang an nur durch eine deutliche Erhöhung der Staatsverschuldung decken.

Zu schaffen machen der sozial-liberalen Koalition auch die stark steigenden Preise. Angefacht durch den Verfall des US-Dollars und kräftige Lohnzuwächse, klettert die Inflationsrate in der Bundesrepublik bald über 5%. Im Streit über die richtigen Gegenmaßnahmen tritt Finanzminister Alex Möller 1971 zurück. Sein Nachfolger Karl Schiller, der als „Superminister“ auch für Wirtschaft zuständig ist, nimmt ein Jahr später seinen Hut.

Scheitern des Konstruktiven Misstrauensvotums

Die CDU/CSU-Opposition bekämpft die von Willy Brandt geführte Bundesregierung mit aller Härte. Besonders erbittert ist die Auseinandersetzung um die Neue Ostpolitik. Durch Übertritte einzelner SPD- und FDP-Abgeordneter zur Unionsfraktion schmilzt die knappe Mehrheit der sozial-liberalen Koalition im Bundestag dahin. Im Frühjahr 1972 glaubt der CDU-Vorsitzende Rainer Barzel, genug Parlamentarier hinter sich zu haben, um Brandt durch ein konstruktives Misstrauensvotum stürzen und selbst Bundeskanzler werden zu können.

Doch das Vorhaben scheitert. Bei der mit großer Spannung erwarteten Abstimmung im Bundestag am 27. April 1972 fehlen Barzel überraschend zwei Stimmen, so dass Willy Brandt Kanzler bleibt. Sofort machen Gerüchte über Bestechung die Runde. Erst nach 1990 wird enthüllt, dass die DDR 1972 zwei Unionsabgeordneten 50.000 DM gezahlt hat, damit sie nicht für Barzel stimmen. Ungeklärt bleibt, ob auch die Opposition oder die Regierungsfraktionen zur Mehrheitsbeschaffung Geld eingesetzt haben.

„Willy wählen“

Da weder die Koalition von SPD und FDP noch die CDU/CSU eine regierungsfähige Mehrheit im Bundestag haben, verständigen sich beide Seiten auf vorzeitige Neuwahlen. Der Wahlkampf 1972 elektrisiert und polarisiert die Bundesrepublik. So viele Bürgerinnen und Bürger wie nie zuvor engagieren sich politisch. Begeistert legen sich Mitglieder und Sympathisanten der SPD für Willy Brandt ins Zeug. In der von Günter Grass initiierten Sozialdemokratischen Wählerinitiative (SWI) unterstützen nicht zuletzt auch prominente Journalisten, Künstler und Intellektuelle den Kanzler.

Der international hoch geachtete Staatsmann und Friedensnobelpreisträger ist bei der Mehrheit der Deutschen sehr beliebt. Sein reformfreudiger und weltoffener Regierungsstil kommt besonders bei den jungen Leuten gut an. Von seinen Anhängern wird Brandt verehrt und geliebt, von seinen Gegnern jedoch nicht selten geschmäht und gehasst. Rechtsextreme Gruppen starten erneut Hetzkampagnen gegen ihn.

Die Bundestagswahl am 19. November 1972 wird zum persönlichen Triumph für Willy Brandt. Mit 45,8 Prozent erzielt die SPD das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Da die FDP ebenfalls hinzugewinnt, kann die sozial-liberale Koalition mit stabiler Mehrheit weiterregieren. Für Brandt repräsentiert dieses Bündnis die „Neue Mitte“ in der Bundesrepublik. Zugleich symbolisiert es in seinen Augen die historische Versöhnung zwischen Arbeiterbewegung und Liberalismus in Deutschland.

Enttäuschte Erwartungen

Der Start in die neue Legislaturperiode misslingt der Regierungskoalition jedoch. Das Ringen um die Ostverträge und der Wahlkampf haben Willy Brandt viel Kraft gekostet. Gesundheitlich schwer angeschlagen, kann der Kanzler an den Koalitionsverhandlungen nicht teilnehmen. Wichtige Entscheidungen werden ohne ihn getroffen oder ihm aufgezwungen. Dazu zählt u. a. die Ablösung von Kanzleramtschef Horst Ehmke durch Horst Grabert, die sich als schwerer Fehler erweist.

Weil Geld fehlt, muss die sozial-liberale Koalition ihre innenpolitischen Reformziele zurückstecken. Das enttäuscht viele SPD-Anhänger, die nach dem Wahlsieg ganz andere Erwartungen haben. Unter ihnen gibt es auch viel Unmut über den so genannten „Radikalenerlass“. Die vom Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten der Länder 1972 beschlossene Überprüfung aller Bewerber für den Öffentlichen Dienst durch den Verfassungsschutz soll politische Extremisten vom Staatsdienst fernhalten. In der Praxis geraten indessen alle, die sich links von der SPD oder sogar in ihr engagieren, in den generellen Verdacht verfassungsfeindlicher Umtriebe. Vielen Betroffenen wird deshalb z. B. das Lehramt verwehrt.

Krise und Kritik

Die größten Herausforderungen für Brandt und seine Regierung sind die unerwarteten Schwierigkeiten, die sich im Laufe des Jahres 1973 auftürmen: Das Weltwährungssystem zerfällt, in etlichen Branchen wird wochenlang gestreikt und schließlich machen arabische Staaten durch einen zeitweisen Förder- und Lieferstopp das Erdöl knapp und teuer.

Die Ölkrise im Herbst 1973 erschüttert nachhaltig den Glauben an ungebremsten Fortschritt und zeigt auf, dass Rohstoffquellen nicht unerschöpflich sind. Die Reformeuphorie verfliegt schlagartig. Die Bundesregierung verhängt einschneidende Energiesparmaßnahmen. Doch dass in der Folge das Wirtschaftswachstum einbricht, die Inflation weiter steigt und die Arbeitslosigkeit stark zunimmt, kann sie nicht verhindern.

Die Vorwürfe mehren sich, Bundeskanzler Willy Brandt sei führungsschwach und kümmere sich zu wenig um die Innenpolitik. Besonders bitter ist die harsche öffentliche Kritik, die aus den eigenen Reihen, besonders von Herbert Wehner, Helmut Schmidt und Günter Grass, kommt. Dass die Gewerkschaften Anfang 1974 gegen Brandts erklärten Willen eine Tariferhöhung von 11 Prozent für den Öffentlichen Dienst durchsetzen, lässt das Ansehen des Kanzlers auf einen Tiefpunkt sinken.

Guillaume-Affäre und Kanzlerrücktritt

Im Frühjahr 1974 scheint es zunächst wieder aufwärts zu gehen. Brandt ist entschlossen, das Kabinett umzubilden und die Regierungsarbeit zu beleben. Doch es kommt anders. Am 24. April 1974 wird Günter Guillaume, seit Ende 1972 als Referent im Kanzlerbüro zuständig für die Kontakte zur Parteiorganisation und zur SPD-Fraktion, verhaftet.

Nach außen ein loyaler Mitarbeiter, der den Kanzler auf vielen Reisen begleitet, ist Guillaume tatsächlich Offizier des DDR-Geheimdienstes. Obwohl im Mai 1973 erstmals Verdachtsmomente aufgetaucht sind, ist der Referent nicht versetzt worden. Brandt hat sich dabei an den Rat des Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes, Günther Nollau, und des Bundesinnenministers Hans-Dietrich Genscher (FDP) gehalten, was er nun sehr bereut.

Bald kommen Spekulationen auf, dass Guillaume Verfängliches über Brandts Privatleben wisse. Sie entstammen einem Dossier des Bundeskriminalamtes, das nicht geheim bleibt. Als über den Inhalt Medienberichte vorbereitet werden und eine neue Verleumdungskampagne gegen ihn anzulaufen droht, entscheidet sich Willy Brandt zum Amtsverzicht. Der Kanzler übernimmt die politische Verantwortung für den Spionagefall und tritt am 6. Mai 1974 zurück. Brandts Anhänger sind geschockt. Am 16. Mai 1974 wählt der Bundestag Helmut Schmidt (SPD) zum Nachfolger als Bundeskanzler.


Literaturhinweise:

Arnulf Baring: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, 4. Aufl., Stuttgart 1983.

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 7: Mehr Demokratie wagen. Innen- und Gesellschaftspolitik 1966–1974, bearb. von Wolther von Kieseritzky, Bonn 2001.

Willy Brandt: Erinnerungen. Mit den „Notizen zum Fall G“, erweiterte Ausgabe, Berlin/Frankfurt a. M. 1994 (Neuauflage 2013).

Hermann Schreiber: Kanzlersturz. Warum Willy Brandt zurücktrat, München 2003.

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