„Eine Welt“ – Engagement im Nord-Süd-Konflikt 1969–1992
Für die Beseitigung von Hunger und Armut in der Welt macht sich Willy Brandt ein Leben lang stark. In der von ihm geleiteten Nord-Süd-Kommission engagiert er sich ab 1977 für eine bessere Entwicklungszusammenarbeit und für Reformen der Weltwirtschaft. Die Kommissionsberichte von 1980 und 1983, die das gemeinsame Interesse aller Staaten am Überleben betonen, unterbreiten dazu zahlreiche Vorschläge. Vor allem fordert Brandt, mehr Geld für Entwicklung und weniger für Rüstung auszugeben. Als ein Vordenker der Globalisierung und der Idee einer „Weltinnenpolitik“ gibt er Anfang der 1990er Jahre wichtige Impulse für das Konzept „Global Governance“.
Frühe Kontakte zur „Dritten Welt“
Den Kampf gegen Hunger und Armut, für Frieden und mehr Gerechtigkeit in der Welt empfindet Willy Brandt sein Leben lang als eine moralische und mitmenschliche Pflicht. Bereits während seines skandinavischen Exils bringt er den asiatischen und afrikanischen Kolonialvölkern großes Interesse entgegen, von denen viele nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit erlangen.
Erste persönliche Begegnungen mit der so genannten „Dritten Welt“ erlebt er als Regierender Bürgermeister von Berlin und später als Bundesaußenminister bei Reisen nach Asien, Afrika und Lateinamerika. Zu seinen Gesprächspartnern zählen seinerzeit u. a. führende Köpfe der Blockfreienbewegung, wie Jawaharlal Nehru (Indien), Gamal Abdel Nasser (Ägypten), Jomo Kenyatta (Kenia) und Julius Nyerere (Tansania).
Neue Ansätze und verpasste Chancen in der Kanzlerzeit
Für den Bundeskanzler der Jahre 1969 bis 1974 steht die Entwicklungspolitik aber nicht im Mittelpunkt der Arbeit, wenngleich die von Willy Brandt geführte Regierung auch auf diesem Gebiet Neuland betritt: 1971 verabschiedet das sozial-liberale Kabinett die vom zuständigen Minister Erhard Eppler vorgelegte erste entwicklungspolitische Konzeption einer Bundesregierung. Sie versteht Entwicklungspolitik als einen Ansatz zur „Weltinnenpolitik“. Dieser Gedanke durchzieht auch die Rede, die der Kanzler anlässlich der Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in die UNO im September 1973 in New York hält. Darin ruft Brandt zum gemeinsamen Kampf gegen die Not in der Welt auf und betont: „Wo Hunger herrscht, ist auf die Dauer kein Friede.“
Das Versprechen, die Ausgaben für Entwicklungshilfe deutlich zu steigern, erfüllt die SPD-FDP-Regierung jedoch nicht. Mit ein Grund dafür ist die drastische Ölpreiserhöhung im Herbst 1973, die schwere weltwirtschaftliche Turbulenzen auslöst. Die Ölkrise verschärft den Nord-Süd-Konflikt dramatisch. Speziell die in der „Gruppe der 77“ (G77) zusammengeschlossenen blockfreien Entwicklungsländer wollen die Rohstoffabhängigkeit der Industriestaaten zum Hebel für die Durchsetzung ihrer Forderung nach einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ machen.
Gründung der Nord-Süd-Kommission
Den Anstoß dafür, dass Willy Brandt sich nach seiner Regierungszeit intensiv mit dem Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beschäftigt, gibt im Januar 1977 Weltbankpräsident Robert McNamara. Überraschend schlägt er den deutschen Altkanzler für den Vorsitz einer internationalen Kommission vor, die mit neuen Ideen den Stillstand in den Nord-Süd-Beziehungen überwinden soll.
Nach kurzem Zögern ist Brandt bereit, sich dieser Aufgabe zu stellen. Wie schon bei der „neuen Ostpolitik“ hofft er, durch konstruktiven Dialog beider Seiten den Konflikt entschärfen und das Gegeneinander in ein Miteinander überführen zu können. Die Entwicklungspolitik begreift er als eine neue, globale Dimension der Friedens- und Entspannungspolitik. Doch McNamaras Initiative stößt bei einigen G77-Staaten zunächst auf heftigen Widerstand, so dass Brandt erst Ende September 1977 die Gründung der „Unabhängigen Kommission für Internationale Entwicklungsfragen“ verkünden kann.
Schwierige Beratungen
Der „Nord-Süd-Kommission“ oder „Brandt-Kommission“ gehören insgesamt 21 namhafte Politiker und Experten aus acht Industrie- und elf Entwicklungsländern an. Prominenteste Mitglieder neben dem Vorsitzenden sind der britische Konservative Edward Heath, der schwedische Sozialdemokrat Olof Palme, der chilenische Christdemokrat Eduardo Frei Montalva, die amerikanische Herausgeberin Katharine Graham und der guyanische Politiker Shridath Ramphal.
Da die Kommission ein sehr breites politisches Spektrum repräsentiert, gestalten sich ihre Beratungen schwierig. Nach zweijähriger Arbeit und zehn Sitzungen in Europa, Amerika, Afrika und Asien stehen Brandt und seine Kollegen im Herbst 1979 kurz vor dem Scheitern. Doch in letzter Minute können sie sich noch auf ein gemeinsames Abschlussdokument verständigen.
Zahlreiche Vorschläge
Mitte Februar 1980 übergibt Willy Brandt den Kommissionsbericht mit dem Titel „Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie -und Entwicklungsländer“ persönlich an UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim, an Weltbankpräsident Robert McNamara und an US-Präsident Jimmy Carter.
Der Brandt-Report, der keynesianischen Wirtschaftsvorstellungen folgt, enthält zahlreiche Vorschläge: Die Entwicklungshilfeausgaben der Industriestaaten sollen bis 1985 auf 0,7 % und bis 2000 auf 1 % des jeweiligen nationalen Bruttosozialprodukts steigen. Zudem sollen Hemmnisse im Welthandel abgebaut und die Länder des globalen Südens besser in die Weltwirtschaft integriert werden. Weitere Empfehlungen zielen auf eine Steigerung der Nahrungsmittelproduktion, eine weltweite Energiestrategie, eine Reform von Weltbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) sowie die Gründung eines Weltentwicklungsfonds.
In seiner eindringlichen und viel beachteten Einleitung zum Bericht betont Willy Brandt, dass es angesichts der Gefahren und Herausforderungen durch die zunehmende Globalisierung im Interesse aller Staaten liege, die internationale Zusammenarbeit zu verbessern und auszubauen. Vor allem fordert er, weniger Geld für Rüstung und deutlich mehr für Entwicklung auszugeben.
Kaum praktische Folgen
Obwohl viele Regierungen weltweit den Bericht der Nord-Süd-Kommission grundsätzlich begrüßen, setzen sie deren Handlungsempfehlungen kaum um. Hauptursache dafür sind die erneute Zuspitzung des Ost-West-Konflikts und eine neue Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1980er Jahre.
Einzig sichtbare Folge des Brandt-Reports ist der erste Nord-Süd-Gipfel, der im Oktober 1981 in Cancún (Mexiko) stattfindet. Das Treffen von 22 Staats- und Regierungschefs aus aller Welt, das auf eine Idee Brandts zurückgeht, endet aber ohne greifbare Ergebnisse.
Fortgesetztes Engagement
Alarmiert von der sich ausweitenden Wirtschafts- und Schuldenkrise, legt die Brandt-Kommission 1983 einen zweiten Bericht vor. Besonders ins Visier nimmt sie dabei die neoliberale Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung von US-Präsident Ronald Reagan, die auch in der Entwicklungspolitik vor allem auf freie Marktwirtschaft und Privatinvestitionen setzt.
Auch nach der Auflösung seiner Kommission 1984 lässt die Nord-Süd-Frage Willy Brandt nicht mehr los. In aller Schärfe kritisiert er das Wettrüsten der Supermächte bei wachsendem Hunger in der Welt. Um diesen Zusammenhang zu untersuchen, gründet er 1986 in Bonn die Stiftung Entwicklung und Frieden.
Vordenker für „Global Governance“
Nachhaltige Wirkung entfaltet Willy Brandts Nord-Süd-Engagement auch durch zwei weitere Gremien, die seinem Vorbild nacheifern und die Idee der gemeinsamen Interessen aufgreifen. Zum einen ist dies die von Olof Palme geleitete „Unabhängige Kommission für Abrüstungs- und Sicherheitsfragen“, die 1982 ihren Bericht „Gemeinsame Sicherheit“ auf den Markt bringt. Zum anderen handelt es sich um die „Weltkommission für Umwelt und Entwicklung“, die unter dem Vorsitz von Gro Harlem Brundtland 1987 den Bericht „Unsere gemeinsame Zukunft“ veröffentlicht.
Es ist wiederum Brandt, der Anfang 1990 die Weiterentwicklung der drei Konzepte anregt. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist „Global Governance“ seine Vision. Auf Initiative des deutschen Altkanzlers bildet sich in Stockholm eine Arbeitsgruppe, die der Weltöffentlichkeit im April 1991 Vorschläge für eine Reform der Vereinten Nationen und des internationalen Systems präsentiert. Aus der „Stockholmer Initiative“ geht ein Jahr später die von Ingvar Carlsson und Shridath Ramphal geleitete „Commission on Global Governance“ hervor, an der mitzuwirken Willy Brandt aber nicht mehr vergönnt ist.
Literaturhinweise:
Das Überleben sichern. Gemeinsame Interessen der Industrie- und Entwicklungsländer. Bericht der Nord-Süd-Kommission. Mit einer Einleitung des Vorsitzenden Willy Brandt, Köln 1980.
Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 8: Über Europa hinaus. Dritte Welt und Sozialistische Internationale, bearb. von Bernd Rother und Wolfgang Schmidt, Bonn 2006.
Willy Brandt: Der organisierte Wahnsinn. Wettrüsten und Welthunger, Köln 1985.