„Jetzt wächst zusammen, was zusammen­gehört“ – Deutsche Einheit 1989/90

Im Zerfall der kommunistischen Regime, der 1989 zuerst in Polen und Ungarn einsetzt, erkennt Willy Brandt die historische Chance zur Überwindung der europäischen und der deutschen Teilung. Als Ostdeutsche massenhaft in den Westen fliehen und zugleich hunderttausende Landsleute für Freiheit und Demokratie demonstrieren, ist auch die SED-Diktatur in der DDR am Ende. Mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und der Friedlichen Revolution geht für Brandt ein Traum in Erfüllung. Begeistert fördert der SPD-Ehrenvorsitzende das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten. Die Deutsche Einheit 1990 krönt das Lebenswerk Willy Brandts. Erfolg hat auch sein Werben für Berlin als Sitz von Regierung und Parlament des wiedervereinigten Deutschland.

Osteuropa zwischen Aufbruch und Abschottung

Nach der Erklärung des sowjetischen Generalsekretärs Michail Gorbatschow Ende 1988, derzufolge jeder Staat das Recht habe, seinen eigenen Weg zu wählen, gerät die seit Jahrzehnten festgefügte Ordnung in Osteuropa in Bewegung. Die mit der Sowjetunion verbündeten kommunistischen Regime reagieren allerdings sehr unterschiedlich auf die von Moskau erstmalig gewährte Entscheidungsfreiheit.

In Ungarn leiten die Kommunisten im Februar 1989 den stufenweisen Übergang zu einem Mehrparteiensystem ein. In Polen einigt sich die Regierung Anfang April 1989 am „Runden Tisch“ mit der von der Gewerkschaft „Solidarność“ angeführten Opposition auf umfassende Reformen. Die daraufhin stattfindenden, teilweise freien Wahlen bringen Solidarność einen überwältigenden Sieg und führen im August 1989 zur Wahl von Tadeusz Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten der Nachkriegszeit.

Die Machthaber in den anderen Ostblock-Staaten hingegen lehnen eine Lockerung ihrer Diktatur durch Reformen strikt ab und verschärfen stattdessen die Unterdrückung. In der DDR manipuliert das von Erich Honecker geführte SED-Regime im Mai 1989 massiv das Ergebnis der Kommunalwahlen. Der Wahlbetrug, den Oppositionsgruppen aufdecken und publik machen, verstärkt die Unzufriedenheit in der Bevölkerung mit dem Kommunismus. Menschen finden sich zu ersten, noch kleinen Protestdemonstrationen zusammen.

Gespür für den epochalen Umbruch

Früher als andere Politiker erspürt Willy Brandt den epochalen Umbruch und das nahende Ende der europäischen und der deutschen Teilung. Der SPD-Ehrenvorsitzende ist überzeugt davon, dass die tiefgreifenden Veränderungen im Osten Europas auch die DDR erfassen werden. Im Sommer 1989 bringt er für sein wenig später erscheinendes Buch „Erinnerungen“ diese Sätze zu Papier: „Warum, mit welchem Recht und aufgrund welcher Erfahrung ausschließen, daß eines Tages in Leipzig und Dresden, Magdeburg und Schwerin – und in Ostberlin – nicht Hunderte, sondern Hunderttausende auf den Beinen sind und ihre staatsbürgerlichen Rechte einfordern? (…) Und Berlin? Und die Mauer? Die Stadt wird leben, und die Mauer wird fallen.“

Als im Spätsommer 1989 tausende DDR-Bürger über Ungarn in den Westen fliehen können und zugleich immer mehr Menschen in der DDR gegen die SED-Herrschaft demonstrieren, plädiert Brandt für eine neue Deutschlandpolitik. In einer Rede vor dem Bundestag macht er am 1. September 1989 klar, dass es im Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR fortan um deutlich mehr gehen müsse, als „durch vielerlei kleine Schritte den Zusammenhalt der getrennten Familien und damit der Nation wahren zu helfen“. Für den Altkanzler steht bald darauf die Verwirklichung von „Selbstbestimmung und Einheit“ der Deutschen auf der Tagesordnung.

„Wende“, Mauerfall und Friedliche Revolution in der DDR

Auf die Fluchtbewegung und auf die anschwellenden Massenproteste in den DDR-Städten, allen voran die Montagsdemonstrationen in Leipzig, reagiert das SED-Regime Mitte Oktober 1989 mit einem Führungswechsel. Doch der neue Generalsekretär Egon Krenz, der Erich Honecker ersetzt, kann allen „Wende“-Versprechungen zum Trotz die Lage für seine Partei nicht stabilisieren. Die in ihrem Ablauf so nicht beabsichtigte Öffnung der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989 beschleunigt den Machtverlust der SED und verhilft der Friedlichen Revolution in der DDR endgültig zum Durchbruch.

Schon am Morgen nach dem Mauerfall fliegt Willy Brandt nach Berlin. Tief bewegt und an den Mauerbau 1961 zurückdenkend, kommentiert der frühere Regierende Bürgermeister in einem Interview die Grenzöffnung mit den Worten: „Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört.“ Dabei betont Brandt, dieser Satz beziehe sich nicht nur auf Deutschland, sondern auf Europa im Ganzen.

Während einer Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg, an der am späten Nachmittag des 10. November 1989 u. a. auch Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) teilnehmen, fordert der SPD-Ehrenvorsitzende die Abhaltung freier Wahlen in der DDR. Noch am selben Abend trifft er in Ost-Berlin erstmals mit Vertretern der neugegründeten Sozialdemokratischen Partei der DDR zusammen.

Für „Neuvereinigung“ statt „Wiedervereinigung“

Bald nach dem Fall der Mauer wird der Ruf nach der Einheit Deutschlands immer lauter. Bei vielen Auftritten, die er ab Dezember 1989 in der DDR absolviert, erlebt Willy Brandt, dass die große Mehrheit der Ostdeutschen so schnell wie möglich die Vereinigung mit der Bundesrepublik will. Der Altkanzler versteht und unterstützt diesen Wunsch. Entschieden wendet er sich deshalb gegen die Skeptiker in der SPD, vor allem Oskar Lafontaine und Günter Grass, die der europäischen Einigung Vorgang einräumen wollen oder einen deutschen Nationalstaat mit Verweis auf die NS-Verbrechen ablehnen.

Im Gegensatz zu den 1950er Jahren möchte Willy Brandt aber nicht mehr von „Wiedervereinigung“ sprechen. Seine Distanzierung von diesem Begriff hat bereits Ende der 1960er Jahre eingesetzt und sich im Laufe der 1980er Jahre immer weiter verschärft. Für großen Wirbel sorgt Brandts Äußerung aus dem Jahr 1988, wonach „die Hoffnung auf Wiedervereinigung geradezu zu einer Lebenslüge“ der alten Bundesrepublik geworden sei. Für diese Formulierung, die sich 1989 auch in seinen „Erinnerungen“ findet, wird er von konservativen Politikern und Publizisten heftig attackiert.

Brandt stört sich an der Vorsilbe „wieder“, die seiner Ansicht nach als Rückkehr zum Bismarck-Reich und als ein Festhalten an den deutschen Grenzen von 1937 missverstanden werden kann. Mit Blick auf die zukünftige Gestaltung des Verhältnisses der beiden deutschen Staaten spricht er daher bewusst von „Neuvereinigung“.

Befürworter der raschen Einheit

Nur noch zu vergleichen mit Kanzler Kohl, ragt Willy Brandt 1989/90 durch sein klares Bekenntnis zur deutschen Einheit als nationale Integrationsfigur heraus. In Ost und in West genießt Brandt gleichermaßen höchstes Ansehen. Im Wahlkampf zur DDR-Volkskammer ist er das populäre Zugpferd der Ost-SPD, die ihn auch zu ihrem Ehrenvorsitzenden ernennt. Der Sieg der Ost-CDU und das überraschend schwache Abschneiden der Sozialdemokraten bei der Wahl am 18. März 1990 enttäuschen Brandt.

Das hält den 76-Jährigen jedoch nicht davon ab, die weitere Beschleunigung des Einigungsprozesses zu befürworten und zu begrüßen. Trotz Kritik in manchen Details stimmt Brandt der Politik des Bundeskanzlers im Grundsatz zu. Was die äußeren Aspekte der Vereinigung betrifft, hat er – bis auf Kohls Umgang mit der Anerkennung der polnischen Westgrenze – keine Einwände. Das gilt nicht zuletzt auch für die NATO-Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland.

Streit und Bruch mit Lafontaine

In Bezug auf das Tempo und die Gestaltung der deutschen Einheit gibt es indes schwerwiegende Meinungsverschiedenheiten zwischen dem SPD-Ehrenvorsitzenden und dem Kanzlerkandidaten der Partei, dem saarländischen Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine. Gegen dessen erklärten Willen setzt Willy Brandt gemeinsam mit dem Parteivorsitzenden Hans-Jochen Vogel im Sommer 1990 durch, dass die SPD im Bundestag sowohl für die Währungsunion als auch für den Einigungsvertrag stimmt.

Über diesen Streit kommt es zum Bruch zwischen Brandt und Lafontaine. Für die schwere Niederlage der SPD bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 macht der Altkanzler in erster Linie den Saarländer und dessen fehlende Begeisterung für die deutsche Einheit verantwortlich.

Erfüllung eines Traums

Mit dem Beitritt der DDR zum Grundgesetz der Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 wird Deutschlands staatliche Einheit wiederhergestellt. Mit Tränen in den Augen wohnt Willy Brandt um Mitternacht den Feierlichkeiten auf der Ehrentribüne vor dem Berliner Reichstagsgebäude bei. Für ihn geht in diesem Moment ein Traum in Erfüllung, dessen Verwirklichung seine Ost- und Deutschlandpolitik erst möglich gemacht hat.

Von Erfolg gekrönt ist schließlich auch sein engagiertes Werben für Berlin als nicht nur nominelle Hauptstadt des vereinten Deutschland. Am 20. Juni 1991 stimmt der Bundestag in Bonn nach einer spannenden Debatte mit knapper Mehrheit dafür, den Sitz von Regierung und Parlament der Bundesrepublik vom Rhein an die Spree zu verlegen.


Literaturhinweise:

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 10: Gemeinsame Sicherheit. Internationale Beziehungen und deutsche Frage 1982–1992, bearb. von Uwe Mai, Bernd Rother und Wolfgang Schmidt, Bonn 2009.

Willy Brandt: Erinnerungen. Mit den „Notizen zum Fall G“, erweiterte Ausgabe, Berlin/Frankfurt a. M. 1994 (Neuauflage 2013).

Willy Brandt: „Was zusammengehört…“ Über Deutschland, 2., völlig neu überarbeitete und erweiterte Aufl., Bonn 1993.

Daniel F. Sturm: Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006 (Willy-Brandt-Studien, Bd. 1).

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