Für die Partei der Freiheit – Vorsitzender der SPD 1964–1987

Unter Willy Brandt entwickelt sich die SPD zur modernen linken Volkspartei, die viele Erfolge feiert. Ab 1966 trägt sie 16 Jahre lang Regierungsverantwortung in Bonn. Als Bundeskanzler führt Brandt die Partei 1972 zum größten Wahlsieg ihrer Geschichte. Die Zahl der SPD-Mitglieder steigt derweil rasant an und liegt 1976 bei einer Million. Auch nach dem Kanzlerrücktritt 1974 ist Willy Brandt die Identifikations- und Integrationsfigur der Partei, auch wenn sein Führungsstil nicht unumstritten ist und innerparteiliche Konflikte zunehmen. In der Ära von Bundeskanzler Helmut Schmidt kann er die SPD als Vorsitzender nur mit Mühe zusammenhalten. Nach dem Machtverlust 1982 stellt Brandt die Weichen für ein neues Grundsatzprogramm.

Von der Arbeiter- zur Volkspartei

Seit dem Godesberger Programm von 1959 rückt die SPD immer mehr in die politische Mitte, um neue Wählerschichten für sich zu erschließen. Ihren Wandel von der traditionellen Arbeiterpartei zur modernen Volkspartei verkörpert in den frühen 1960er Jahren niemand so sehr wie Willy Brandt.

Schon bei der Bundestagswahl 1961 schicken die Sozialdemokraten den Regierenden Bürgermeister von Berlin als ihren Kanzlerkandidaten gegen den Amtsinhaber Konrad Adenauer (CDU) ins Rennen. Es ist daher keine Überraschung mehr, dass nach dem Tod von Erich Ollenhauer ein außerordentlicher Parteitag in Bonn am 16. Februar 1964 Willy Brandt zum neuen SPD-Vorsitzenden wählt.

Umfassende Modernisierung

Die programmatische und personelle Erneuerung der SPD geht einher mit der Modernisierung der Organisation, des Erscheinungsbildes und der Wahlkampagnen der Partei. Neu ist auch der Kontakt zu Schriftstellern, Journalisten und Intellektuellen, die sich in den Wahlkämpfen 1961 und 1965 für die Sozialdemokratie engagieren. Daraus entsteht 1968 die von Günter Grass gegründete Sozialdemokratische Wählerinitiative (SWI).

Die beträchtlichen Stimmengewinne, die Willy Brandt und die SPD bei den Bundestagswahlen 1961 und 1965 verbuchen können, reichen jedoch noch nicht zum Regieren. Nach der zweiten Niederlage als Kanzlerkandidat erklärt er sogar, kein drittes Mal antreten zu wollen. Grund dafür sind die wiederholten Diffamierungskampagnen gegen ihn, die sein Exil in Skandinavien ins Zwielicht rücken.

Erstmals Regierungspartei in der Großen Koalition

Zum ersten Mal in die Regierungsverantwortung auf Bundesebene gelangen die SPD und ihr Vorsitzender, als im Herbst 1966 wegen eines plötzlichen Wirtschaftseinbruchs die Koalition von CDU/CSU und FDP in Bonn zerbricht. Nach dem Rücktritt von Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) kommt es zur Bildung einer Großen Koalition.

In der SPD ist das Zusammengehen mit der CDU/CSU allerdings stark umstritten. Viele Mitglieder lehnen das Bündnis mit den Unionsparteien ab. Auch Willy Brandt ist zunächst skeptisch, stimmt der Großen Koalition dann aber zu. Im Kabinett von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) wird er Außenminister und Vizekanzler.

In der Innenpolitik arbeiten CDU/CSU und SPD ziemlich erfolgreich zusammen. Deshalb ist die Große Koalition beim Volk beliebt. Die Regierung kurbelt nicht nur die Wirtschaft wieder an. Sie leitet auch die Modernisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik ein und reagiert damit auf den rasch voranschreitenden gesellschaftlichen Wandel.

Wichtigste Neuerungen und Maßnahmen sind die Reform der öffentlichen Finanzordnung, die Hochschulreform, die Justiz- und Strafrechtsreform, das Wachstums- und Stabilitätsgesetz, die „Konzertierte Aktion“ von Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften in der Wirtschaftspolitik, der Ausbau der Verkehrswege sowie das Gesetz zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Großen Anteil an den Reformprojekten haben auf sozialdemokratischer Seite neben dem Parteivorsitzenden Willy Brandt und seinem Stellvertreter Herbert Wehner der Fraktionsvorsitzende Helmut Schmidt sowie die Minister Karl Schiller, Gustav Heinemann und Georg Leber.

APO-Proteste und Bildung der sozial-liberalen Koalition

Auf scharfe Ablehnung stößt die Große Koalition allerdings bei der Außerparlamentarischen Opposition (APO), die 1967/68 vor allem gegen die von den Regierungsparteien beschlossene Notstandsgesetzgebung auf die Straße geht. Wie man auf die Studentenproteste reagieren soll, ist innerhalb der Großen Koalition zunehmend umstritten. Brandt grenzt die SPD von den radikalen Kräften in der APO ab, führt aber den Dialog mit den gemäßigt systemkritischen jungen Leuten und zeigt sich aufnahmebereit für sie.

1969 sind die Gemeinsamkeiten von CDU/CSU und SPD aufgebraucht, insbesondere in der Ostpolitik. Dass Willy Brandt die Große Koalition beenden will, macht er noch am Abend der Bundestagswahl 1969 deutlich. Ohne vorherige Absprache mit der Parteiführung stellt er die Weichen für ein Regierungsbündnis von SPD und FDP, das ihn zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler wählt. Nach außen treibt die sozial-liberale Koalition eine neue Ost- und Deutschlandpolitik und die Einigung Europas voran. Im Innern führt sie unter dem Motto „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ weitere Reformen in Staat und Gesellschaft durch.

Goldenes Zeitalter der SPD

In der Geschichte der deutschen Sozialdemokraten stellen die Jahre mit Willy Brandt an der Spitze ein goldenes Zeitalter dar. Bei der Bundestagswahl 1972 profitiert die SPD ganz besonders von der Popularität und dem hohen internationalen Ansehen des Bundeskanzlers und Friedensnobelpreisträgers. Sie wirbt u. a. mit dem Slogan „Deutsche, wir können stolz sein auf unser Land. Wählt Willy Brandt!“ und erreicht ihr historisch bestes Ergebnis.

Auch bei den Mitgliederzahlen geht es steil nach oben: von 650.000 (1964) bis auf eine Million (1976). Allein zwischen 1969 und 1976 verzeichnet die SPD den Eintritt von 400.000 neuen Mitgliedern, von denen mehr als Zweidrittel jünger als 40 Jahre sind. Insofern zahlt sich Brandts Kurs gegenüber der APO-Generation aus.

Flügelkämpfe und umstrittener Führungsstil

Zur Kehrseite des rasanten Mitgliederzuwachses in den frühen 1970er Jahren gehört indes, dass die SPD immer weniger eine Partei der Arbeiter ist. Die Neumitglieder haben häufig eine akademische Ausbildung oder sind in der öffentlichen Verwaltung beschäftigt. Durch die Jusos, die der Politik der sozial-liberalen Regierung kritisch gegenüber stehen, erstarkt der linke Parteiflügel. Innerparteiliche Konflikte sind die Folge.

Dass Willy Brandt auf diese Entwicklung eher gelassen reagiert und den Linken in der SPD nicht stärker Einhalt gebieten will, stößt vor allem bei Helmut Schmidt und Herbert Wehner auf massive Kritik. Als „Troika“ bilden die Drei seit Ende der 1960er Jahre das informelle Machtzentrum der Partei. Ab 1973 ist ihr Verhältnis aber erheblich belastet. Wehner und Schmidt werfen Brandt Führungsschwäche und mangelnde Härte vor. Die Anhänger des SPD-Vorsitzenden loben dagegen seinen kollegialen Führungsstil, weil er Entscheidungen bevorzugt in Diskussionsprozessen und im Konsens herbeiführt statt durch Machtworte.

Überragende Identifikations- und Integrationsfigur

Sein Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers 1974 ändert nichts daran, dass Willy Brandt die Identifikations- und Integrationsfigur der SPD ist und bleibt. Als Parteivorsitzender, zu dem ihn die Sozialdemokraten zwischen 1964 und 1987 insgesamt zwölfmal und stets mit mehr als 90 % Zustimmung wählen, ist er unangefochten.

Zu Brandts wichtigsten Wegbegleitern an der Parteispitze zählen die stellvertretenden Vorsitzenden Fritz Erler (1964–1967), Heinz Kühn (1973–1975), Hans Koschnick (1975–1979), Hans-Jürgen Wischnewski (1979–1982), Johannes Rau (1982–1987) und Hans-Jochen Vogel (1984–1987) sowie die Schatzmeister Alfred Nau (1946–1975), Wilhelm Dröscher (1975–1977), Friedrich Halstenberg (1978–1984) und Hans Matthöfer (1985–1987).

Ein besonders enges Arbeitsverhältnis pflegt der SPD-Chef mit dem Bundesgeschäftsführer. In diesem Amt bewähren sich Hans-Jürgen Wischnewski (1968–1971), Holger Börner (1972–1976), Egon Bahr (1976–1981) und Peter Glotz (1981–1987), die das besondere Vertrauen Willy Brandts genießen. In seinen Büros in der Parteizentrale und im Bundestag wird der SPD-Vorsitzende insbesondere durch die langjährigen persönlichen Mitarbeiter Klaus-Henning Rosen, Thomas Mirow, Klaus Lindenberg, Thea Wernicke und Rita Lintz unterstützt.

Vom Erfolg zur Krise und zum Machtverlust

Nach seinem Kanzlerrücktritt setzt sich Willy Brandt für den erfolgreichen Fortbestand der von Bundeskanzler Helmut Schmidt weitergeführten sozial-liberalen Regierung ein. Auch bei den Wahlen 1976 und 1980 erringt die SPD/FDP-Koalition die Mehrheit im Bundestag.

Doch die Aufgabe, die eigene Partei zusammenzuhalten, wird für Willy Brandt immer schwieriger. Der linke Flügel ist mit Schmidts Politik zunehmend unzufrieden. Die Folgen einer Weltwirtschaftskrise und vor allem die Auseinandersetzungen um den NATO-Doppelbeschluss stürzen die SPD Anfang der 1980er Jahre in eine tiefe Krise.

In der Frage der „Nachrüstung“ tut sich zwischen Brandt und Schmidt und ihren jeweiligen Unterstützern ein Graben auf. Der SPD-Vorsitzende teilt die Sorge vieler Parteifreunde vor dem atomaren Wettrüsten und will die aufkommende Friedens- und Umweltbewegung integrieren. Der Kanzler beharrt dagegen auf der Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses und fordert eine klare Abgrenzung von Pazifisten und Atomkraftgegnern. Dieser Streit trägt wesentlich zum Auseinanderbrechen der sozial-liberalen Koalition 1982 bei.

Neuausrichtung in der Opposition

Während sich Helmut Schmidt und Herbert Wehner nach dem Verlust der Regierungsmacht in Bonn aus der Parteispitze zurückziehen, macht Willy Brandt als SPD-Vorsitzender weiter. Gegen den Widerstand des rechten Flügels setzt er sich für eine Neuausrichtung der Partei und eine Annäherung an die Grünen ein.

Unter der Leitung des Parteivorsitzenden beginnen 1984 die Arbeiten an einem neuen SPD-Grundsatzprogramm, das die Belange der Arbeitnehmer, der Wirtschaft und der Umwelt miteinander versöhnen soll. 1986 beschließen die Sozialdemokraten den Ausstieg aus der Atomenergie. Die Bundestagswahlen 1983 und 1987 mit den Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau enden für die SPD jedoch mit klaren Niederlagen.

Viel Sympathie bringt Willy Brandt der nachrückenden Politikergeneration entgegen, die als seine „politischen Enkel“ gelten. Dazu zählen Oskar Lafontaine, Björn Engholm, Gerhard Schröder, Rudolf Scharping, Herta Däubler-Gmelin und Heidemarie Wieczorek-Zeul.

Ende einer Ära

Am 23. März 1987 kündigt der 73-jährige Parteivorsitzende seinen Rücktritt an. Anlass ist der Protest vieler Sozialdemokraten gegen seinen Vorschlag, die parteilose Margarita Mathiopoulos zur neuen Vorstandssprecherin zu machen.

23 Jahre – so lange wie kein anderer SPD-Vorsitzender, auch nicht August Bebel – hat Willy Brandt die Partei geführt. Am 14. Juni 1987 ernennt die SPD ihn auf einem außerordentlichen Parteitag in Bonn zu ihrem Ehrenvorsitzenden.


Literaturhinweise:

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 4: Auf dem Weg nach vorn. Willy Brandt und die SPD 1947–1972, bearb. von Daniela Münkel, Berlin 2000.

Willy Brandt – Berliner Ausgabe, Bd. 5: Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD 1972–1992, bearb. von Karsten Rudolph, Bonn 2002.

Willy Brandt: Die Abschiedsrede, Berlin 1987.

Bernd Faulenbach: Das sozialdemokratische Jahrzehnt. Von der Reformeuphorie zur neuen Unübersichtlichkeit. Die SPD 1969–1982, Bonn 2011.

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